Die Häuser der Stadt wuchsen spiralförmig den Hügel hinauf, dessen Spitze der mit Quarzsteinen und einer Blesshuhnfeder geschmückte Palast krönte. Eine Palisade aus geschälten Ästen umgab den quadratischen Hof, den der Reiter, nachdem er den purpurnen Rhododendronblütenfluss überquert hatte, durch einen Torbogen aus weißen, einander zugeneigten Vogelknochen erreichte. Fein geriebener Torf lag auf dem gewundenen, gemächlich ansteigenden Weg, mattschwarze Miesmuscheln und faltige Rindenstücke trennten ihn vom Sand, der im Sonnenlicht glitzerte. Der Reiter hatte eine schlechte Nachricht zu überbringen. Häuptling Wilbur und sein treues Pferd sollten noch einen ganzen Monat in der Gefangenschaft der schrecklichen Herrscherin Ferguson und ihrer Schergen bleiben, so hatte es der Rat der finsteren Mächte beschlossen.
Die Indianer stimmten einen Wehgesang an, und Orla gab sich Mühe, besonders laut zu klagen. Wilbur jammerte nur leise, es war ihm ein wenig peinlich.
«Nicht lachen«, sagte er zu seiner Großmutter.
«Ich lache nicht«, sagte Orla. Dann lachten beide, und das große Wehklagen der Indianer war vorüber. Nachdem die Pferde versorgt und in einem prächtigen Stall aus geschälten Ästen und Moos untergebracht waren, setzten sich die verbliebenen Angehörigen des Stammes an eine lange Tafel, die aus einem Stück angeschwemmtem Kistenholz bestand, und aßen. Orla hatte einen Apfelkuchen gebacken und Limonade aus Melisse und Honig gemacht.
«Wir könnten ins Schulhaus einbrechen, nachts, und sie befreien«, sagte Wilbur. Sie saßen im Schatten und spürten die Wärme, die von der Mauer in ihre Rücken gepumpt wurde. Ab und zu verscheuchten sie eine Wespe, die im Limonadenkrug brummte.
«Und all die anderen Sachen in der Kiste«, sagte Orla.
Wilbur biss vom Apfelkuchen ab und überlegte. Kein Schüler hatte die Kiste je gesehen, und doch wusste jeder von ihrer Existenz. In ihr wurden die konfiszierten Gegenstände verwahrt, die Comic-Hefte, Kaugummis, Steinschleudern, Gummibälle, Matchbox-Autos und all die Dinge, die in der Schule verboten waren. Eine Schatztruhe, da war sich Wilbur sicher.
«Wir könnten die Leiter mitnehmen«, sagte Wilbur.»Und ein Seil.«
«Und wenn wir erwischt werden?«Orla passte auf, dass keine Wespe auf Wilburs Kuchen landete. Sie trug ein knöchellanges Kleid aus blauem Stoff, keine Schuhe und einen großen Strohhut, um den ein gelbes Band gewickelt war.
Wilbur dachte erneut nach. Eine Wolke setzte sich vor die Sonne. Er nahm die Hand herunter, die er als Schirm über die Augen gelegt hatte, und kaute abwesend. Hinter der Mauer rollte das Meer gegen das Land. Möwen flogen heute keine, vielleicht war ihnen der Himmel zu hell. Als die Wolke von der Sonne wegtrieb und Licht in das Viereck aus Mauern stürzte, klopfte es zaghaft an der Holztür. Orla wischte sich die Hände am Kleid ab, als wolle sie gleich jemanden begrüßen.
«Colm?«rief sie und erhob sich. Der einsame Nachbar kam gelegentlich herüber und trank eine Tasse Tee mit, setzte sich zu Orla und Wilbur und sah ihnen zu, wie sie ihre Städte bauten. Er war linkisch und schüchtern, und wenn er etwas sagte, stotterte er manchmal und schüttelte den Kopf, als wolle er seine eigenen Worte infrage stellen.
Auf der anderen Seite der Mauer blieb es still. Colm kam nie an die Rückseite des Hauses, er klingelte immer vorne, wie er es getan hatte, bevor es die rote Tür überhaupt gab. Dann klopfte es noch einmal, zugleich zaghaft und hartnäckig. Orla seufzte und ging zur Mauer, nahm den Schlüssel vom Haken und sperrte die Tür auf.
Draußen stand Conor Lynch, hielt den Kopf gesenkt und verdrehte mit beiden Händen die Kappe, als wolle er sie auswringen.
«Conor?«Orla ging ein wenig in die Knie, um dem Jungen ins Gesicht zu sehen.
«Ist Will da? Ich meine, Wilbur. «Conor hob endlich den Kopf, um ihn gleich wieder zu senken. Er trug kurze Hosen aus grobem Stoff, seine Beine waren zerkratzt. Wenn er mit diesen Schuhen das Schulhaus betreten hätte, wären ihm zwei Stunden Nachsitzen sicher gewesen.
Orla drehte sich um. Wilbur saß da, sah in ihre Richtung und vergaß zu kauen. Eine Wespe umkreiste ihn, ein winziger summender Satellit. Er verscheuchte sie nicht.
«Conor ist hier«, sagte Orla.»Conor Lynch. «In der Gegend gab es noch einen Conor, den alten, alleinstehenden McGonigle, der Hirtenhunde züchtete und regelmäßig Ärger mit der Polizei hatte, weil er während der Schonzeit auf Rebhühner schoss.
Wilbur blieb sitzen. Er sah Conor nicht, der, von Orla verdeckt, im Türrahmen stand. Jetzt zog doch eine Möwe durch das Blau des Himmels. Sie schlug nicht mit den Flügeln, ihre Konturen wurden vom Licht verwischt, sie gab keinen Laut von sich. Wilbur sah ihr nach, der Kuchenbissen rutschte ihm in den Hals. Er machte eine Faust, es schmerzte nicht, dann öffnete er sie und stand auf. Jetzt rief die Möwe, stieß einen langgezogenen Schrei aus, einen gegen sein Ende abfallenden Ausruf der Klage, der allem Irdischen galt. Orla trat von der Tür weg, und Conor hob den Kopf.
Wenn eine Freundschaft aus Abenteuern bestand, aus Feldzügen und Eroberungen, wenn sie auf Herumtoben gründete und irrwitzigen Spielen und dem sinnlosen Stauen von Bächen, dann war das, was zwischen Wilbur und Conor bestand, keine Freundschaft. Ganze Nachmittage saßen die beiden im Gras auf dem flachen Erdhügel neben dem Haus, sahen statt aufs Meer hinaus ins Land hinein und redeten nichts oder in knappen Sätzen, wie es alte Männer taten. Eine stille Übereinkunft herrschte zwischen den beiden, die besagte, dass das Leben zu kompliziert sei, um darüber in achtlos hingeworfenen Worten zu plaudern oder es aus einer panischen Langeweile heraus zu verharmlosen, wie es die Mädchen auf dem Schulhof taten.
Lieber schwiegen sie, als die Stille mit Banalitäten zu stören. Sollten die Erwachsenen über die Farben des Himmels philosophieren und deren Einfluss auf das Wetter, über die Mannschaften fachsimpeln, die es ins Finale im Gaelic Football geschafft hatten, oder über die Gründe spekulieren, warum die siebzehnjährige Rosie O’Sea ins Meer gegangen war, obwohl sie nicht schwimmen konnte. Sie überließen es den Säufern im Pub, die fallenden Preise für Milch und die steigenden für Bier zu beklagen, und den Jungs auf dem Pausenplatz, sich über englische Fußballteams und italienische Rennautos auszulassen. Stumm saßen sie da und beobachteten die Bewegungen im Fell der Hügel, während die Welt aufgeregt und angeödet vor sich hin quasselte.
Wurde es kühl oder drohte Regen, kam Orla aus dem Haus und holte sie herein. Dann tranken sie in der Küche heiße Schokolade und hörten Musik aus dem neuen Radio, das wie ein silbernes Haus mit blau erleuchteten Fenstern auf dem Regal über der Anrichte stand. Zu den Liedern, die sie kannte, sang Orla mit, und Wilbur senkte verschämt und verzückt den Blick, während seine Füße unter dem Tisch in wildem Takt wippten.
Conor war diese Musik fremd wie die Bücher, die sich in Wilburs Zimmer stapelten. Er lauschte ihr mit der erstaunten Andacht und der unterdrückten Begeisterung, mit der ein Forscher den Lockrufen eines unbekannten Tieres lauscht. Der U2-Song Desire baute in ihm Berge von Genügsamkeit ab und trieb Stollen in sein Innerstes, durch die Helligkeit flutete, Begehren und Verwirrung. Angefüllt mit heißer Schokolade und Musik, saß er auf seinem Stuhl, zuckte fiebrig mit den Fingern und öffnete den Mund, als schlucke er die Töne. Manchmal schloss er selbstvergessen die Augen, dann ruckte sein Kopf vor und zurück, und seine Ohren, den Klängen entgegengewölbte Schüsseln, leuchteten. Öffnete er in der kurzen Stille zwischen zwei Stücken die Augen, lief er rot an und verbarg sein Gesicht hinter der Tasse, deren Glasur die Farbschichten von Torf imitierte.
Orla betrachtete die beiden Freunde mit gemischten Gefühlen. Sie freute sich für Wilbur, der jemanden brauchte, der nicht über ein halbes Jahrhundert älter war als er, einen Gefährten, mit dem er über Dinge reden konnte, über die er mit ihr nicht sprach, und in dessen Gesellschaft er lernen konnte, dass er nicht der einzige Junge auf der Welt war, der täglich vor neuen Rätseln des Universums stand. Aber sie bedauerte auch, dass sie ihren Enkelsohn mit Conor teilen musste, dass er nicht mehr seine ganze Zeit mit ihr verbringen wollte. In dem Maße, in dem die gemeinsamen Stunden für ihn an Wichtigkeit zu verlieren schienen, gewannen sie für Orla an Bedeutung. Die Nachmittage und Sonntage, an denen Conor nicht auftauchte, wurden für Orla noch kostbarer als zuvor, und wenn sie zusammen eine neue Stadt erbauten oder in ihrem blauen Auto durch die Gegend fuhren, kostete sie jeden Augenblick aus, als könnte es der letzte sein. Nachts blieb sie oft noch Stunden wach, saß an Wilburs Bett und sah ihn an, oder sie lag in dem Klappbett, auf dessen Anschaffung Wilbur aus Sorge um ihren Rücken bestanden hatte, und horchte auf die Geräusche, die das schlafende Kind von sich gab.