Mein Gefühl sagt mir, dass es mitten in der Nacht ist. Ich muss stundenlang geschlafen haben, nachdem ich die leere Wanne durch die Tür verlassen hatte wie einen albernen Sportwagen oder eine Kutsche und zurück in meine Kammer geführt worden war. Jetzt liege ich in einem mit frischen Laken bezogenen Bett, nackt und verschrumpelt und nach Fichtennadeln riechend. Eine Handbreit unter der Raumdecke brennen zwei Lampen, schwache Birnen hinter Milchglasscheiben von der Größe einer Tafel Schokolade. Die Kontrolllämpchen an den Kameras versichern mir rot leuchtend, dass man ein Auge auf mich geworfen hat. Nachtsichtgerät, denke ich, Restlichtverstärker, Infrarot, Thermosensoren. Ich frage mich, was mein Zimmer wohl den Steuerzahler kostet, Leute, die mich nie gesehen haben und denen es egal wäre, wenn ich auf dem Grund des Meeres läge, zwischen Seesternen und Autoreifen, geschaukelt von Ebbe und Flut.
Die Überbleibsel eines Schlafmittels geistern durch mein System. Ich bin durstig, setze mich auf, lasse die Beine baumeln und warte. Ich zähle bis zehn, dann bis zwanzig, schließlich von vorne bis dreißig. Ich stehe auf und gehe zur Tür, taste sie ab, mache die Augen zu und spüre das rau he Holz, die Risse, das dunkle Rot, das in meine Fingerspitzen sickert. Ich öffne die Augen, als meine Zehen etwas Weiches berühren, eine weiße Schlange, zusammengerollt vor meinen Füßen. Eine Weile stehe ich da, meine Augen gewöhnen sich an das wenige Licht, dann schiebe ich das Knäuel ein Stück über den Boden, hebe es schließlich auf und halte den Gürtel des Bademantels in den Händen. Ich bleibe stehen, nackt, und zähle still meine Schätze. Ein Bademantelgürtel. Zwei Gummischlappen. Ein Kissen und eine Decke ohne Bezüge. Ein unzerreißbares Laken. Das kreditkartengroße Heftpflaster an meinem Handgelenk. Meine schadhaften Erinnerungen. Meine defekte Phantasie.
Ich setze mich hin, der Boden ist warm, und drehe den Gürtel in den Händen, binde mir einen Schlips, übe Seemannsknoten. Dann ist er eine Peitsche, ich schlage auf Pferderücken ein, schnalze mit der Zunge. Wells Fargo, Post für Santa Fé. Danach ist der Gürtel eine Angel, die Schlappen sind bunte Fische. Ich knüpfe eine Schlinge, steige aufs Bett und werfe das Lasso, aus den Fischen sind Kühe geworden, Longhorns, ich bin Adam, Hoss, Little Joe, die Bullen sträuben sich, Pa wartet mit dem glühenden Brandeisen.
Die beiden Pfleger, die in mein Zimmer stürzen, kenne ich nicht, sie müssen die Nachtschicht sein. Sie packen mich nicht grob, aber beherzt an beiden Armen, wie es ihre Kollegen getan hatten. Bestimmt lernen sie diese freundliche Überwältigung während der Ausbildung, und ich stelle sie mir vor, wie sie vorsichtig übereinander herfallen und versuchen, nicht zu kichern. Der eine, ein großer Dünner mit langen Haaren, redet auf mich ein in einer Melodie und Sprache, wie ich sie aus einer Dokumentation über Menschen kenne, die unruhige Pferde besänftigen. Der andere, ein Schwarzer, trägt eine dunkle Jacke, die feucht ist und nach Regen riecht. Um seinen Hals schließt sich der Bügel eines Discmankopfhörers, aus den gelben Schaumstoffpolstern scherbelt Musik. Er atmet heftig, und sein leise ausgestoßenes» Bleib cool, Mann «klingt wie ein Mantra, das er für sich selber herunterleiert.
Die beiden halten mich mit sanftem Druck fest, bis der Arzt den Raum betritt. Dass ich noch immer das Lasso in der Hand halte, bemerke ich erst, als er es mir wegnimmt. Ich sitze inzwischen auf dem Bett, flankiert von den beiden Pflegern, die sich ein wenig beruhigt haben. Der Arzt betrachtet den Bademantelgürtel, als überlege er, ob er meine paar Kilo getragen hätte. Dann sieht er mich an, und ich glaube Trauer in seinen Augen zu erkennen, Kummer. Tatsächlich seufzt er, bevor er redet.
«Es tut mir leid«, sagt er. Seine Stimme ist weich, sein Akzent vermag den Patienten die Angst zu nehmen, schlimme Dinge klingen harmloser, wenn sie aus seinem Mund kommen.
Ich bin kein Patient, denke ich, während Vermeer sich für die Sache mit dem Gürtel entschuldigt und dafür, dass ich wegen eines technischen Defekts für wenige Minuten nicht auf den Monitoren zu sehen war. Ich könnte ihm alles erklären. Das mit Little Joe und den Longhorns. Dass mir langweilig war, dass ich mich nicht erhängen wollte. Woran auch, vielleicht am Bettgestell, das in den Boden geschraubt ist? Oder an einer der Kameras, an die ich ohne Stuhl sowieso nicht rangekommen wäre und die so filigran wirken, als würden sie abbrechen unter dem Gewicht eines Kanarienvogels aus Burt Lancasters Zelle?
Als ich endlich den Mund aufmachen und alle Irrtümer mit ein paar wenigen klar formulierten Sätzen beseitigen will, als ich meine vorgetäuschte Stummheit beichten und meine sofortige Abreise anbieten will, höre ich den Arzt etwas sagen, das mich auch weiterhin schweigen lässt.
«… und deshalb werde ich Sie in die Offene Abteilung verlegen.«
Ich sehe ihn an. Er lächelt. Ich und die beiden Pfleger sitzen auf dem Bett wie Brüder, denen der Vater eine Geschichte erzählt hat. Dass ich nackt bin, hatte ich vergessen, und jetzt, da es mir bewusst wird, beginne ich zu weinen. Ich will nicht weinen, aber ich habe plötzlich Mitleid mit mir, weil außer mir alle bekleidet sind. Ich sehne mich nach einer Hose und einem Hemd und heule mit gesenktem Kopf und sehe dabei meinen Penis, der über der Innenseite des Oberschenkels liegt wie eine Eidechse in der Sonne. Vermeer streicht mir über den Kopf und verspricht, dass alles gut wird, und beinahe glaube ich ihm.
In der Offenen Abteilung ließe es sich wahrscheinlich leben, wenn da nicht all diese Typen wären. Diese Wanderer und Herumhocker und Leser und Spieler und Glotzer mit ihren vom Leben gebeutelten Köpfen, ihrem Murmeln und Schweigen und Quatschen. Sitzen herum und warten, schiefe Töne in einem öden Lied. Reisende ohne Ziel in einem Bahnhof, aus dem die Züge längst abgefahren sind. Einer trägt den Arm in der Schlinge, ein anderer zieht das Bein nach, in einem Sessel döst einer mit Halskrause. Ich wünschte, ich hätte dem Arzt zugehört und wüsste wenigstens, wo ich hier bin, Krankenhaus, Klapsmühle oder Erholungsheim.
Der Bau ist schön, die Innenarchitektur streng und edel. Wo man hinsieht, erstreckt sich Parkett, abgelöst von hellem Teppich. Sonnenlicht fällt durch Glasdächer, in die Wände sind Aquarien eingelassen, bunte Fische schweben darin. Pfleger schlendern umher, immer zu zweit, adrett gekleidete Collegeboys auf dem Campus. Über allem liegt Ruhe und Bedächtigkeit, ein großes Atemholen, aber die Anhäufung sonderbarer Männer macht mich nervös.
Nach dem Mittagessen hat Vermeer mich in das Zimmer geführt wie der Page den Hotelgast. Zuvor war ich eingekleidet worden, sandfarbene Socken, die Hose einen Ton dunkler, blaues T-Shirt und moosgrünes Hemd, weiße Turnschuhe ohne Markenname, alles wie angegossen. Vermeer erläuterte mir kurz das Prinzip der Offenen Abteilung und zeigte mir mein Bett, das Bad, den Schrank, das Regal mit den Büchern und den Heften von National Geographic und den Bildbänden über Tie re, das Sonnensystem und die Wunder der Erde.
Dann hat er mir Melvin vorgestellt, meinen Zimmergenossen. Melvin ist etwa Mitte fünfzig, eine Stirnbreit größer als ich und übergewichtig. Sein Händedruck ist warm und feucht, seine Stimme klar wie das Wasser in den Aquarien. Mich stellte Vermeer als Will vor. Den Namen hatte ich ihm nach langem Zögern auf seinen Block gekritzelt. Er hatte das wohl als großen Fortschritt betrachtet und mich gerührt und glücklich angestrahlt.
Danach führte er mich herum. Er zeigte mir den Fernsehraum, wo nur Filme über Tiere, das Sonnensystem und die Wunder der Erde laufen, vermutlich weil Nachrichtensendungen, Talkshows und Spielfilme eine verstörende Wirkung auf Menschen wie mich haben könnten. Wir sahen eine Weile drei Männern an einem Billardtisch zu und tranken grünen Tee, wobei ich meinen auslöffelte und Vermeer Anlass zu einer Notiz gab. Die Männer hatten ein eigenes, bescheuertes Spiel erfunden, bei dem leere Pappbecher, eine Untertasse und gestapelte Kekse wichtige Funktionen hatten.