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Nach drei Partien von etwa zwei Minuten Länge, während derer die Männer die Kugeln von Hand über den Filz schoben, behutsam und mit der Konzentration von Uhrmachern, hatte ich keine Regeln ausmachen können, kein System, kein Muster. Ob es das Ziel des Spiels war, die Pappbecher umzustoßen, und ob es dabei eine Reihenfolge einzuhalten galt, blieb mir ein Rätsel. Warum die Männer zufrieden murmelten, wenn ihre Kugel wenige Zentimeter hinter einem Keksstapel zu liegen kam, aber aufstöhnten, wenn sie ihn berührte, erschloss sich mir nicht. Ob es galt, dem Unterteller einen Klang zu entlocken oder über möglichst viele Banden zu der leeren Zigarettenschachtel zurückzufinden, die in einer Ecke des Tisches vor dem Loch lag, war mir schleierhaft, und nichts war mir gleichgültiger. Trotzdem ließ ich die langsam rollende Kugel nicht aus den Augen, eingelullt von einem summenden Geräuschpegel, Vermeers melodischen Sätzen und den Medikamenten, die in meinem Körper schwappten.

Nachdem wir die leeren Teetassen in einen kleinen Fahrstuhl gestellt hatten, sind wir weitergegangen. Es gab noch Schach- und Damespieler, einen schalldichten Raum voller Instrumente und einen Erker mit großem Fenster, durch das man in einen Garten sah, wo ein paar Ziegen und ein vietnamesisches Hängebauchschwein grasten. Am Ende des Rundgangs brachte mich Vermeer zu meinem Zimmer zurück, unterhielt sich kurz mit Melvin und ging dann, nicht ohne mir einen schönen Aufenthalt zu wünschen.

Den hätte ich vielleicht sogar, wenn ich die Zimmertür zumachen, mich mit einem National Geographic aufs Bett legen und den Artikel über die Stämme auf Papua-Neuguinea lesen könnte, die sich gegenseitig töten, dabei jedoch, anders als die murmelnden Billardspieler, klaren Regeln folgen. Aber die Türen haben kein Schloss, und offenbar ist es in der Offenen Abteilung üblich, dass die Bewohner, Patienten, Insassen, was auch immer die offizielle Bezeichnung sein mag, sich untereinander besuchen. Glücklicherweise sind die meisten Männer hier nicht sehr kontaktfreudig, aber die paar, die einem längeren Monolog nicht abgeneigt sind, rauben mir schon nach wenigen Stunden den letzten Nerv.

Als erster kommt Stan, der sich ungefragt auf mein Bett setzt und von der Kunst des Rosenzüchtens schwärmt. Er trägt immer ein Buch bei sich, in das er Rosen gezeichnet hat, wissenschaftlich akribische Illustrationen, umgeben von Textwolken aus winzigen blauen Buchstaben, die Sorten, Namen, Herkunft und so weiter behandeln. Am liebsten redet Stan über das Düngen. Er preist die Vorteile einer Mixtur aus Eier- und Bananenschalen und Kaffeesatz, beschreibt die verblüffende Wirkung von Hühnermist und Pferdedung, und wenn er die Algen-, Asche- und Kalkmischung erwähnt, stottert er vor Aufregung. Stan riecht nach den Pfefferminzpastillen, die er dauernd lutscht, und sein Kopf, klein und gefleckt, erinnert an eine vom Sonnenlicht gesprenkelte Melone. Während er leise und deutlich spricht, bleibt sein Blick auf die Buchseiten geheftet, über die er mit den Fingern streicht. Bevor er geht, schenkt er mir ein Bonbon, klemmt das Buch unter den Arm und hat es plötzlich eilig wegzukommen.

Kaum ist Stan gegangen, poltert Rodrigo ins Zimmer und will mich in die verglaste Raucherzelle am Ende des Flurs schleppen, weil er nikotinsüchtig ist und die Hausordnung das Rauchen in den Zimmern untersagt. Er redet zu laut und meistens in Spanisch, zeigt mir die Tätowierungen auf seinen Unterarmen und hustet in ein Taschentuch, das zerknüllt in seiner behaarten Faust liegt. Er hat Mundgeruch und trägt einen roten Trainingsanzug, und ich hasse ihn. Das einzige Erfreuliche an ihm ist, dass er nach ein paar Minuten verschwindet, hastig und grußlos und eine Zigarette aus der Packung schüttelnd.

Den dritten ungebetenen Besucher heute, Roger, könnte ich vielleicht sogar mögen, wenn er mir draußen über den Weg laufen würde. Er ist um die vierzig, sieht aus wie Michael Caine und verliert kein Wort. Er stellt mir einen Stapel zwischen Pappdeckel gebundener Zeitungsausschnitte vors Bett, wartet, bis ich mir den obersten Band auf die Knie lege und aufschlage, und verlässt mit dem restlichen Stapel das Zimmer.

Elroy und Wayne, die beiden alten Schwarzen, fragen nur, ob ich Schach spielen würde, und als ich verneine, bin ich für sie gestorben. Soll mir recht sein. Die Namen der drei, vier anderen Gestalten, die sich im Verlauf des Nachmittags ins Zimmer verirren, kenne ich nicht, und ich habe nicht das Bedürfnis, sie herauszufinden.

Als es draußen dunkel wird, fließt warmes Licht durch die Flure. Wie auf ein Zeichen bewegen sich die Männer in eine Richtung. Abendessen, sagt Melvin. Ich habe keinen Hunger und bleibe liegen. Eine wundervolle, beängstigende Weile bin ich völlig allein.

Melvin. Melvin Rosenkranz, der seit zehn Monaten hier ist, wie er mir heute Morgen beim Frühstück erzählt hat. Melvin, der im Schlaf Hebräisch spricht und am Tag breiten Südstaatenakzent, der ein schwarzes Käppi trägt, das die Hälfte seiner Glatze bedeckt, der ständig eine Dose Malzbier in der Hand hält und seine Pantoffeln abends in einen Stoffbeutel packt und unters Kopfkissen legt, damit sie am Morgen warm sind. Ich würde ein Einzelzimmer vorziehen, aber die gibt es hier nicht, und außerdem mag ich Melvin irgendwie, denn er quatscht mich nicht voll, verlangt nicht, dass ich anfange zu rauchen, zeigt mir nicht die Bücher, die er gerade liest, und weckt mich nicht auf, um zu fragen, ob ich schlafe. Melvin ist in Ordnung, weil er mich in Ruhe lässt. Weil er trotzdem da ist und sagt, ich soll es aufschreiben, wenn ich irgendetwas brauche oder wissen will. Und weil er nicht schnarcht und sein Bett nicht knarrt, obwohl er so dick ist.

Die erste Nacht mit Melvin Rosenkranz im selben Raum war ziemlich merkwürdig, trotz der Faltwand zwischen unseren Betten. Ich fühlte mich gehemmt und ging auf Zehenspitzen zum Klo, um ihn nicht zu wecken. Als ich dalag und seinen Atem hörte und die ins Dunkel gemurmelten Sätze, die ich erst für ein Gebet hielt, musste ich an meinen Großvater denken, den ich manchmal gehört hatte, nachts, als Kind.

Am Nachmittag fragt mich Melvin, woher ich komme. Er nimmt einen Bildband vom Regal, in dem eine Weltkarte abgebildet ist, und ich zögere absichtlich ein wenig und zeige dann mit dem Finger auf Irland, auf die oberste Spitze der Insel, hinter der nur noch Blau ist. Ein Paddy, sagt Melvin und kichert. Orla hat mir erzählt, ich sei in Amerika zur Welt gekommen, in Philadelphia, Pennsylvania. Aber das braucht Melvin nicht zu wissen. Auch nicht, dass ich mich trotzdem als Ire fühle, nicht als Amerikaner.

Ich zeige ihm den Zettel, auf den ich meine Frage geschrieben habe: was ist das hier? Vermeer hatte mir nur gesagt, ich sei zur Beobachtung hier, man würde sich um mich kümmern, bis es mir besser ginge. Selbstverständlich wolle man mich nicht gegen meinen Willen festhalten, sagte er. Zuletzt fragte er, ob ich alles verstanden hätte, und freute sich, als ich nickte. Aber ich weiß noch immer nicht, in was für einem Laden ich eigentlich bin. Ich will Melvins Variante hören.

Er setzt die Brille auf und liest, was auf dem Zettel steht. Dann kichert er wieder und lässt die Brille an der Kordel um den Hals baumeln.

«Nennen wir es Sanatorium für Strauchelnde«, sagt er.»Oder Auffanglager für Untaugliche, Refugium für Lebensmüde, Biotop für Ausgeklinkte, such dir was aus. Du musst es dir als Stadt vorstellen, Will, eine Stadt, untergebracht in einem riesigen Gebäudekomplex. Ich weiß nicht, was du bis jetzt gesehen hast, aber es ist nur ein kleiner Teil davon. Es gibt zum Beispiel eine Krankenstation hier. Da warst du, nicht wahr?«Er deutet auf das Heftpflaster an meinem Handgelenk.