Ich nicke. Wayne und Elroy bleiben an der Tür stehen. Tagsüber, zwischen neun Uhr morgens und sieben Uhr abends, müssen die Zimmertüren offenstehen, so will es die Vorschrift. Elroy hat sein Handtuch über die Schulter gelegt, als wolle er ein Bad nehmen. Ich scheuche sie mit einer Handbewegung fort.
«Die Stadt hat ihr eigenes Energiezentrum, Solar- und Erdwärmeanlagen. Da drüben«, Melvin zeigt zur Wand hinter seinem Bett,»stehen Windturbinen auf einem Feld. In Gewächshäusern wird Gemüse angepflanzt, biologisch. Wer lange genug hier ist und Lust hat, kann da arbeiten. Oder in der Schreinerei. Ist aber alles freiwillig. «Melvin trinkt einen Schluck Malzbier.»Hier wird keiner zu irgendwas gezwungen. Nicht mal dazu, wieder ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu werden. Falls er das jemals war. «Sein Kichern klingt, als ob in einer geschlossenen Scheune erfolglos versucht wird, den Motor eines Oldtimers zu starten.
Roger kommt rein und legt einen neuen Band mit Zeitungsausschnitten auf den Boden vor meinem Bett. Ich gebe ihm den von gestern zurück, er presst ihn an die Brust.
«Na, Roger, wie geht es dir heute?«fragt Melvin und nutzt die Unterbrechung, um sich ein neues Malzbier zu holen. Die Dosen stehen in seinem Schrank, mindestens zwanzig Stück auf Vorrat. Er hat mir gesagt, er wolle sie nicht im Gemeinschaftskühlschrank am Ende des Flurs aufbewahren, obwohl es dort für jeden Bewohner ein abschließbares Fach gibt. Er habe keine Lust, jede Viertelstunde den Gang runterzulatschen, um eine Dose zu holen, außerdem reagiere sein Magen empfindlich auf Kaltes.
«Es muss noch vieles getan werden«, sagt Roger beim Gehen.»Vieles getan werden. «Seine Stimme ist monoton und kaum hörbar, eine Durchsage aus defekten Lautsprechern. Immerhin ist er nicht stumm, wie ich gedacht hatte.
Melvin reißt die Dose auf und setzt sich wieder in den Sessel neben meinem Bett.»Wie du ja weißt, nennt sich unser beschauliches Viertel Offene Abteilung. Hier kommt jeder hin, der das Gröbste hinter sich hat. «Er sieht mich an, wie um zu prüfen, ob das auf mich zutrifft.»Natürlich gibt es Ausnahmen. «Er grinst und zwinkert mir zu, nimmt einen Schluck und unterdrückt ein Rülpsen, klopft sich mit der Faust an die Brust.»Wer in die Stadt kommt, wird zuerst auf der Beobachtungsstation behalten. Oder, wie in deinem Fall, auf der Krankenstation. Aber das Ziel ist, die Männer so schnell wie möglich auf die Halboffene oder Offene zu verlegen. Wer raus will, zurück nach Hause, zu seiner Familie oder wohin auch immer, kann das natürlich auch. Jederzeit. Hier wird keiner gegen seinen Willen festgehalten. «Er nimmt einen langen Schluck und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund.»Auch da gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel wenn jemand akut gefährdet ist, unberechenbar.«
Ich frage mich, ob Vermeer denkt, ich sei so ein Fall. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Ein unheilbar Lebensmüder, der bei seinem Suizid Unschuldige mit in den Tod reißt, beim Sprung vom Hochhausdach einen Verkehrsunfall verursacht, auf den Schienen liegend einen Zug zum Entgleisen bringt, mit dem Kopf im Backofen eine Gasexplosion in einem Wohnhaus auslöst, seinen Schädel durchlöchert und mit derselben Kugel auch die Nachbarin hinter dem Küchenfenster tötet.
Melvin sieht mich an und lächelt, als könne er meine Gedanken lesen.»Dass du bei uns bist, hat seinen Grund, Will. Doc Vermeer weiß, was er tut.«
Ich nehme den Zettel, kritzle VERMEER und ein Fragezeichen auf die Rückseite und gebe ihn Melvin.
«Doktor Ruud Vermeer. Er ist hier der Chef. Ich glaube, er arbeitet dreißig Stunden täglich. Er und Doktor Burroughs leiten das Susan und Kate Caldwell Institut für Humanforschung, wie die Stadt offiziell heißt. Burroughs ist die meiste Zeit in der Frauenstadt hinter dem Hügel. «Melvin sieht mein erstauntes Gesicht und lacht.»Tja, auch Frauen versuchen sich umzubringen.«
Ich denke an Rosie O’Sea und nicke.
«Die beiden haben das alles hier entwickelt, das Konzept, die Behandlungsmethoden, die Architektur, die Kleidung, die wir tragen, einfach alles. Sie wollten den staatlichen Nervenheilanstalten etwas entgegenstellen, etwas Humanes, weniger Klinisches. Die Bewohner sollen sich nicht als Insassen fühlen, sondern als das, was sie sind: Menschen, die in den dunkelsten Tagen ihres Lebens Hilfe brauchen. «Melvin lächelt sein Lächeln und trinkt einen Schluck. Vermeer sollte ihn zum Pressesprecher machen.
«He, Melvin!«Ein Typ, der Sam heißt, betritt das Zimmer und hält Melvin ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber hin.»Unterschreib hier. «Er sieht mich an.»Du auch.«
Melvin überfliegt den Text auf dem Blatt.»Ich habe nichts gegen die Ziegen.«
«Ich auch nicht. Aber gegen ihr verdammtes Gemeckere. Ich kann nicht schlafen, Mann!«Sam sieht mich noch immer an. Ich kann den Kerl nicht ausstehen.
«Tut mir leid«, sagt Melvin freundlich. Er gibt Sam das Papier und den Kugelschreiber zurück.»Mich stören sie nicht. «Er lächelt und trinkt einen Schluck aus der Dose.
«Was ist mit dir?«fragt Sam mich.»Magst du Ziegenlärmbelästigung?«
Ich stelle mich blöd und sehe Melvin an.
«Will ist neu hier«, sagt Melvin.»Er muss sich erst einleben.«
Sam starrt mich eine Weile mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Verwirrung an, dann verlässt er das Zimmer.
«Sam ist andauernd wegen irgendetwas unzufrieden«, sagt Melvin, als Sam außer Hörweite ist.»Vor ein paar Wochen hat er eins der Aquarien mit seinem Bettlaken abgedeckt und zu einem Protest aufgerufen. Weißt du, wogegen?«
Ich schüttle den Kopf.
«Gegen die Luftblasen!«Er sieht mich an, als warte er auf einen Kommentar. Dann scheint ihm einzufallen, dass ich nicht rede.»Ihn stören die Blasen aus den Sauerstoffgeräten. Er sagt, sie machen ihn krank. «Melvin kichert kurz, dann sieht er bekümmert vor sich hin. Schließlich trinkt er einen Schluck warmes Malzbier und sieht mich an.»Wo waren wir?… Ach, Doc Vermeer, genau. Man hat ihn aus Holland geholt, wo er etwas Ähnliches aufgebaut hat. Viel kleiner und bescheidener natürlich. Hier hatte er alle Möglichkeiten, seine Idee im großen Stil umzusetzen. Die Caldwell-Stiftung verfügt über Millionen. «Melvin dreht die Dose in der Hand und betrachtet sie, als nehme er zum ersten Mal den aufgedruckten Namen wahr.
Ich warte, überlege, ob ich eine Frage aufschreiben soll.
Melvin ist noch immer in die Betrachtung der Dose vertieft. Dann sieht er mich an, lächelt.»Du fragst dich bestimmt, wer Susan und Kate Caldwell sind.«
Ich nicke. Ich liege in Hosen und T-Shirt auf dem Bett, das National Geographic mit dem Artikel über die Stämme in Neuguinea bedeckt meinen Bauch. Das Titelblatt zeigt den Rumpf eines Killerwals mit offenem Maul, über dem eine fette Robbe schwebt. Es sieht aus, als grüße der Orca grinsend die Robbe, die ihm auf ihrem Flug über die aufgewühlte See mit einer Flosse zuwinkt. Die Szene wirkt wie ein Spiel und nicht wie das blutige Gemetzel, das es ist.
«William Wallace Caldwell ist einer der reichsten Männer Amerikas«, sagt Melvin, dabei fährt er abwesend mit einem Finger über den Dosenrand.»Seine Tochter Susan hat sich mit siebzehn Jahren das Leben genommen. Warum, weiß ich nicht. Geht auch niemanden etwas an.
Vielleicht Liebeskummer, vielleicht war sie schwanger oder manisch-depressiv. Jedenfalls war sie die einzige Tochter. Seine Frau Kate fing an zu trinken und fuhr kein Jahr später gegen einen Brückenpfeiler. «Melvin sieht mich an. Die Getränkedose ist ein kleines Tier, dem er tröstend über den Kopf fährt.»Mit seinem Vermögen hat er diese Stiftung gegründet. Dann hat er eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Sein Chauffeur fand ihn, und er wurde gerettet. Bill Caldwell ist einer der Männer, die ewig in der Beobachtungsstation bleiben, weil sie es immer wieder versuchen.«
Melvin erhebt sich seufzend. Er nimmt die Kopfbedeckung ab, an deren jüdischen Namen ich mich nicht erinnern kann, kratzt sich und setzt sie wieder auf. Seine Hose ist zu eng, der Reißverschluss steht ein Stück weit offen, ein weißer Keil Unterhose ist zu sehen. Er holt eine neue Dose aus dem Schrank, trinkt die andere leer und wirft sie in seinen eigenen Recyclingeimer.