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Ich setze mich auf und hebe das Heftpflaster ein wenig an. Die Haut darunter ist weich und käsig, der Schnitt hellrot, die schwarzen Fäden bilden einen schiefen Gartenzaun.

«Ich mach meinen Rundgang«, sagt Melvin. Er geht jeden Tag mindestens zehnmal durch die ganze Abteilung, plauscht mit den Männern, spielt eine Partie Dame mit Sydney, liest dem Vietnamesen, den alle Ho nennen, Witze aus einem Sammelband vor oder hilft Lefty beim Lösen eines Kreuzworträtsels.»Kommst du mit?«

Ich zeige ihm das Heft, und er nickt.»Bis später dann«, sagt er. Melvins Gang ist watschelnd, und ich muss lächeln, während ich ihm nachblicke.

Am Nachmittag kommt Vermeer. Auf dem Flur muss er erst Sam loswerden, der mit der Ziegenpetition vor seinem Gesicht wedelt, dann betritt er rasch das Zimmer. Den Pfleger, der sich um Sam kümmert, kenne ich, es ist der Typ, der mit seinem Kollegen in mein Zimmer gestürzt kam, als ich mir die Kanüle aus dem Arm gerissen habe. Er legt einen Arm um Sams Schulter und geht mit ihm weg, zwei Kumpels, die sich nach einem harmlosen Streit wieder vertragen und zusammen ein Bier trinken gehen.

Ich frage mich, ob die Pfleger hier ein Vermögen verdienen und ihren Job deshalb so hingebungsvoll erledigen oder ob sie von Natur aus extrem hilfsbereit und fürsorglich sind und gar nicht anders können, als die Besten des Landes zu sein, die Pflege-Elite. Vielleicht werden sie überwacht und gefeuert, wenn sie einen von uns anschnauzen oder sonst wie unfreundlich behandeln. Ich sehe an die Decke und suche nach versteckten Kameras.

«Wilbur Sandberg«, sagt Vermeer. Er sitzt im Sessel, in dem Melvin gesessen hat, und sieht mich an.»Ist das Ihr Name?«

Ich finde nichts, keine Kameras. Ich heiße nicht Wilbur Sandberg, das könnte ich antworten. Mein Name ist Will McDermott. Orla nannte mich manchmal Wilbi und, wenn ich etwas ausgefressen hatte, little filou, wie der französische Arzt, der seltsame Worte in ein kleines Gerät geflüstert hatte.

«Wir haben Ihren Koffer«, sagt Vermeer. Ich sehe ihn an. Er zieht etwas aus der Brusttasche seines Hemdes.»Das Hotel meldete der Polizei Ihr Wegbleiben. «Er hält mir mein Bild hin, eingeklebt in meinen Pass, und ich sehe mich an, fünf Jahre älter. Vermeer faltet ein Blatt Papier auseinander.»Sie haben sich unter dem Namen Conor Finnerty im Hotelregister eingetragen. Erinnern Sie sich daran?«

Ich sehe auf den Flur, wo Stan vor einem Aquarium steht, und obwohl ich mich erinnere, schüttle ich langsam den Kopf. Der Mann mit der Halskrause geht vorbei. Er heißt Larry und hat versucht, sich aufzuknüpfen. Er ist hier, weil der Strick zu dünn oder der Balken morsch war. Er kann nicht sprechen und ernährt sich von Bananenmilch. Er schreibt keine Zettel, hat keine Fragen.

«Wilbur? Erinnern Sie sich?«

Ich würde Vermeer gerne um den Indianer und das Pferd bitten. Ich hätte gerne meinen Koffer bekommen. Darin einrollen würde ich mich und in die Vergangenheit schicken lassen, zurück zu dem Tag, an dem Orla in ihr himmelblaues Auto stieg und losfuhr, um mich zu suchen.

Die Harder, 1990

Irgendwann hatten Wilbur und Conor genug ins Land hineingesehen, drehten sich um und blickten aufs Meer. In der Gegend wurden sie die Zwillinge genannt, in der Schule waren sie nicht einmal mehr einen Spottnamen wert. Miss Ferguson erzählte überall stolz, wie intelligent Wilbur sei und welch positiven Einfluss er auf Conor habe. Wenn das Wetter ein Einsehen hatte, saßen die beiden auf dem flachen Hügel neben dem Haus und zählten die Namen der Fische auf, die im Meer schwammen, die Bezeichnungen der Wolken, die vorbeizogen, die Länder, die hinter dem Horizont lagen. Sie wussten, welche Vögel über ihren Köpfen flogen und was für Käfer zu ihren Füßen krochen, erkannten Flugzeuge an ihrer Form und Autos am Motorengeräusch.

Was ausgebreitet vor ihnen lag, war ein kleiner Teil der Welt. Sie machten ihn größer, indem sie den dunklen Rest mit ihrem Wissen erhellten, sich ein Universum schufen aus Fakten und Träumen, aus Daten und aus Sehnsucht. Beide wussten, dass sie wegwollten, Conor lieber heute als morgen, Wilbur in einer unbestimmten Zukunft. Conor hasste das Land, in dem er festsaß und in dem sein Vater die Macht hatte. Wilbur mochte diesen winzigen Flecken, hier war sein Zuhause, hier lebten er und Orla, mit der ihn unermessliche Liebe verband.

Zwang das Wetter sie ins Haus, hörten sie mit Orla am Küchentisch Radio. Conor saß nicht mehr nur stumm lauschend und mit glühenden Ohren da, jetzt sangen er und Orla die Hitparadensongs mit. Er hatte eine gute, klare Stimme und ließ sich nicht einmal durch Wilbur irritieren, der in jähen Begeisterungsschüben auf der Tischplatte trommelte. Oft lagen sie auch in Wilburs Zimmer auf dem Boden und lasen, spielten zu dritt Monopoly oder ließen sich von Orla Meldungen vorlesen, die sie aus der Zeitung schnitt. Orla hatte sich längst damit abgefunden, Wilbur mit Conor zu teilen, betrachtete es mittlerweile jedoch nicht mehr als Verlust, sondern als Gewinn. Es war eine Freude, die beiden zusammen zu sehen, und auch wenn Conors Haare schwarz waren und sein Körper von träger Kraft strotzte, gefiel Orla die Vorstellung, die Jungen seien Zwillinge.

Conors Vater, Sean Lynch, besaß ein kleines Sägewerk, das Holz an Baufirmen lieferte und Telefonmasten, Zaunpfähle und Gartenzäune herstellte. Conors Mutter Aislin kümmerte sich neben Conor um die drei jährige Fiona und den vierzehnjährigen Kieran, der wegen Sauerstoffmangels die Geburt fast nicht überlebt hatte und geistig und körperlich behindert war. Die Familie wohnte in einem Haus neben dem Werksgelände, und an trockenen Tagen lag der Holzstaub wie gelber Schnee auf den Fenstersimsen. Seit vierzehn Jahren stand das Haus da, und ein Teil der Fassade war noch immer unverputzt, der Rest grau und ohne Anstrich.

An den Lärm der Bandsäge, der Gebläse und der Lastwagen, die auf den Hof fuhren, hatte Aislin sich nach all den Jahren ebenso gewöhnt wie an den Geruch von Holz und Teer und die Abgase der Dieselmotoren, aber damit, in einem unfertigen Haus zu leben, fand sie sich nur schwer ab. Die rohen Bausteine erinnerten sie jeden Tag aufs Neue daran, dass ihr Mann nach Kierans Geburt keinen Sinn mehr darin gesehen hatte, die Arbeiten am Haus zu beenden. Ihr Heim war ein Denkmal für ihr Scheitern, einen gesunden Sohn zur Welt zu bringen, und weder Conors Geburt noch die von Fiona änderten etwas an Seans sturer Verzweiflung.

Um dem missglückten Kind aus dem Weg zu gehen, stand Sean als erster auf und verließ als letzter die große Werkshalle, in der Küche aß er nur dann zu Mittag, wenn seine Frau mit Kieran beim Arzt in Letterkenny oder Dublin war, und lieber benutzte er die verdreckte Toilette hinter dem Geräteschuppen, als dass er riskierte, seinen Ältesten im Haus anzutreffen. Wann immer sich die Gelegenheit bot, bezahlte er für Kieran einen Platz in einem staatlich geführten Camp auf dem Land oder die Teilnahme an einem Kurs, wo Behinderte lernten, Dinge wie Bücherstützen, Holzspielzeug oder Bilderrahmen herzustellen.

Während Kieran irgendwo im County Wicklow nervös lachend auf einem Pony saß oder in einem Backsteingebäude am Rande Dublins einen Pinsel vorsichtig in Leim tunkte, wurde aus Sean Lynch, dem unsichtbaren Mann, ein Vater. Kaum war der Beweis für Gottes Fehlbarkeit weit weg, brach sich seine Liebe Bahn und überschwemmte die Familie wie eine Sintflut ausgetrockneten Boden. Aislin verachtete ihn dafür, nahm sein Auftauchen aus wochenlangem Selbstmitleid und trotziger Schwermut aber dennoch dankbar an, voller Sehnsucht nach seinen unbeholfenen Gesten der Zärtlichkeit.

Für Fiona war der Fremde während dieser sonderbaren Tage eine Märchengestalt, eine verwandelte Kröte, der Weihnachtsmann mitten im Sommer, ein zum Leben erwachter Spielzeugroboter, der in hastiger Sanftheit sprach und Geschenke hervorzauberte, der ihren kleinen Körper drückte und ihre Wangen mit Küssen bedeckte, überhitzt vor Zuneigung und täuschend echt. Zu glauben, dass dieser Mann ihr Vater war, weigerte sie sich dennoch hartnäckig, genau wissend, dass er aus ihrem Leben verschwinden würde, sobald der seltsame Junge zurückkam.