Conor hatte lange versucht, seine Verwirrung nicht in Hass umschlagen zu lassen, aber wenn er seinen Vater im Morgengrauen und nach Einbruch der Dunkelheit im Haus umhergehen hörte wie einen Gast, der niemanden mit seiner traurigen Existenz behelligen will, konnte er nichts gegen seine Gefühle tun. Er wollte die Geschenke nicht, die plötzlich in seinen Schoß fielen, und auch nicht die Berührungen, das Kopftätscheln und Knuffen und Schulterklopfen. Er wollte die Stimme nicht hören, die ihn fragte, wie er sich in der Schule mache und ob er mit zum Angeln wolle am Sonntag. Er hasste seinen Vater. Er hasste ihn, weil dieser große schwere Mann ein Feigling war, weil er sich vor dem Leben duckte wie ein Hund vor Schlägen, weil er ein Schatten war, eine Wolke aus Sägespänen, ein Nichts. Er hasste seinen Vater, und noch mehr seinen Bruder, den Krüppel, der an allem schuld war.
Am frühen Morgen, als Wilbur noch geschlafen hatte, war ein kurzer Regen über das Land gegangen. Jetzt schien die Sonne, und die Erde atmete feucht und warm unter dem Gras. Sauber ausgeschnittene Wolken standen im Himmel, vergessenen Kulissen gleich. Aus den Tümpeln, die sich oft wochenlang in Senken zwischen den Hügeln hielten, stiegen Libellen auf. Weit draußen pflügte ein Trawler durch die See, ein riesiges Netz hinter sich herschleppend, das alles Lebendige ans Licht zerrte, um es zu verwerten oder an die Möwen zu verfüttern, die dem Schiff als glitzernder Körper folgten.
Wilbur hatte gelesen, dass in den Bäuchen dieser schwimmenden Fabriken Katzenhaie ihre Jungen gebaren, bevor sie starben, und dass Arbeiter mit Messern die Arme von Kraken durchtrennten, die im Todeskampf Stahlketten und Gummistiefel umklammerten. Wilbur aß keinen Fisch mehr, seit er im Hafen einen alten Mann beobachtet hatte, der eine zappelnde Makrele am Schwanz hielt und ihr den Kopf zertrümmerte, indem er ihn ein paar Mal auf die Planken schlug. Fish and Chips waren vom Speiseplan gestrichen, und der alte O’Reilly hatte es längst aufgegeben, den Umweg zum McDermott-Haus zu machen.
Wilbur und Conor saßen auf dem Hügel und sahen dem Fangschiff nach, bis es sich in einem Feld aus Licht, zu dem das Meer an den Rändern wurde, auflöste. Conors Haut war gebräunt, er kratzte sich am Knie und kaute auf einem Grashalm. Verglichen mit seinem Freund war Wilbur bleich, seine Beine steckten in langen Hosen. Beide trugen Sonnenbrillen, die Orla ihnen in Letterkenny gekauft hatte. Die Brillen waren zu groß, ihre Bügel griffen hinter den Ohren ins Leere, und die Gläser verdeckten das halbe Gesicht der Jungen.
«Nicaragua«, sagte Conor.
«Bolivien«, sagte Wilbur.
«Guatemala.«
«Kolumbien.«
«Peru«, sagte Conor.
Beide dachten an das Bild aus dem Leihbuch, das den Titel Ein Menschenopfer für den Sonnengott trug und den kolorierten Stich einer Pyramide mit flacher Spitze zeigte, auf dem ein Inkapriester einen Dolch über dem Körper einer jungen, auf einem Altar aus Fels liegenden Frau erhob. Dass die Kultstätte sie an den Steinhaufen erinnerte, den Wilburs Großvater ganz in der Nähe aufschichtete, erwähnten sie mit keinem Wort. Wilbur schämte sich für den alten Narren, und Conor wusste das.
Eine Weile schwiegen die beiden wieder und blickten auf die leere See. Eine Hummel flog an ihnen vorbei, umkreiste sie und steuerte auf die Stechginsterbüsche zu, zwischen deren gelben Blüten es summte von Insekten. Ein paar Schwalben zeichneten sich vor dem Blau des Himmels ab. Sie suchten Futter für ihre Jungen, die in den Nestern an Colm Finnertys Stall warteten. Das Wetter würde bleiben, dachte Wilbur und rieb sich die Nase, die Orla mit Zinksalbe eingeschmiert hatte.
«Ich verrat dir ’n Geheimnis«, sagte Conor.»Aber du darfst es keinem erzählen. «Er sah Wilbur an, gerade lange genug, um dessen Nicken zu sehen.
Ein leichter Wind kam auf, kühlte die Haut und schob die Wolken ein Stück zur Seite. Conor nahm den Grashalm aus dem Mund.
«Fiona ist nicht meine Schwester«, sagte er nach einer Weile. Er sah auf seine Schuhe, die leer vor ihm standen, und wickelte den Halm um einen Finger.
Wilbur wartete. Durch die dunklen Gläser der Sonnenbrille lag ein Schatten auf der Welt, den er für angemessen hielt. Nahm er sie ab, glänzte jeder dumme Gegenstand im Licht, prahlte mit seiner grellen Bedeutungslosigkeit. Einmal war er aufgestanden, um eine leere Flasche außer Sichtweite zu tragen, weil sie für sein Empfinden ungebührlich viel Sonnenlicht bündelte.
«Mein Vater ist nicht ihr Vater.«
«Woher weißt du das?«
«Ich weiß es eben.«
Die Schwalben verschwanden, die Wolken lösten sich auf. Wilbur dachte nach.
«Aber deine Mam hat sie doch auf die Welt gebracht.«
«Ja«, sagte Conor.
«Wenn deine Mam andere Kinder hat, sind das deine Geschwister.«
«Nein. Wenn überhaupt, ist sie meine Halbschwester.«
Wilbur wollte sagen, dass er gerne eine Halbschwester hätte, lieber als gar keine, aber er ließ es bleiben. Er hatte Fiona ein paar Mal gesehen und mochte ihre Einfältigkeit und den Ernst, mit dem sie zu ihren Puppen sprach. Sie erinnerte ihn an sich selber, an den schüchternen Zwerg von früher, der mit der Großmutter im Schutz von Mauern kleine Häuser aus Pappe und Muscheln baute, um darin zu verschwinden. An den Jungen, der einen anderen fast zu Tode prügeln musste, um ihn zum Freund zu gewinnen.
Musik drang plötzlich aus einem offenen Fenster des Hauses. Conor zog seine Schuhe an und erhob sich. Er nahm die Sonnenbrille ab, der schwarze Punkt in seinen Augen wurde kleiner. Orla rief nach ihnen. Conor mochte ihre Stimme und wie sie seinen Namen sang. Er ging durch das kniehohe Gras den Hügel hinunter zum Haus, und Wilbur folgte ihm.
Der Duft des Apfelkuchens füllte die Küche, aber sie trauten sich kaum zu kauen. Orla sah auf eine leere Stelle an der Wand, wo nur für sie Bilder sichtbar wurden. Ihre Hände schmerzten, sie hatte lange gebraucht, um den Teig zu kneten. Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens verschwendet, sie wurde alt und lauschte einem jungen Mädchen, das über die Liebe sang, und sie lächelte. Conors Augen waren geschlossen, er bewegte die Lippen, formte die Worte und wob die Melodie mit den Fingern in die Luft.
Wilbur schwankte langsam vor und zurück, kaum merklich, die Hände und Füße still, andächtig. Das war die Sängerin, über die sich alle in der Schule das Maul zerrissen. Irin war sie und hatte sich den Kopf scheren lassen, wo sie doch so hübsch war. Sang davon, dass ihr Freund sie verlassen hat und dass sie traurig ist, ein Vogel ohne Lied. Auf der Straße könnte sie jeden Jungen umarmen, tut es aber nicht, weil es nicht dasselbe wäre. Zum Arzt geht sie, und der sagt ihr, sie solle fröhlich sein. Sie nennt ihn einen Dummkopf und beklagt die Blumen, die eingegangen sind, seit er weg ist.
Wilbur wusste nichts über diese Form von Liebe. Er nahm die Mädchen in der Schule kaum wahr, hielt die meisten für dumm und gemein, falsche Gesichter, aus denen sinnlose Wörter fielen. Erin Muldoon hatte ihn auf dem Pausenhof einmal lange angesehen, da war ihm heiß geworden, und er war ins Schulgebäude gerannt, obwohl das bei schönem Wetter verboten war. Er liebte Orla, aber ihm war klar, dass da noch etwas anderes war, etwas, das mit den Mädchen in der Schule und in der Phantasie zu tun hatte und mit diesem Lied, das Gefühle beschrieb, Qualen, die ihm noch bevorstanden.
Ein sumpfiger Graben, die Steine herausgebrochen wie Zähne aus einem Maul. Spuren im Gras, Pfade. Der letzte Brocken sprang in zwei Teile, ein dumpfes Knacken entfuhr dem Fels. Licht fing sich im Keil, ließ ihn aufblitzen und erlosch. Eamon brauchte immer längere Pausen, setzte sich auf den Stein oder legte sich ins Gras, das seinen müden Körper umfing. Dann sah er in den Himmel und wartete darauf, dass die Schmerzen in den Händen und in den Schultern nachließen und sein Atem flacher ging. Oft wünschte er sich, in der Erde zu versinken, egal, wie eisig sie war unter ihm. Er war schon eingeschlafen, während der Wind das Salz landeinwärts trug und die trockenen Halme neben seinen Ohren rascheln ließ. Im Traum war er immer ein anderer, einer, den er nicht kannte und an den er sich nicht erinnerte, wenn er aufwachte, durchdrungen von Kälte und bleiernem Schmerz. Heute schlief er nicht ein. Brot lag in seinem Mund, bis es weich genug zum Schlucken war.