Die ganze Nacht liege ich halbwach da. Draußen, weit entfernt, fahren Autos. Ab und zu dringt ein verwehtes Hupen an meine Ohren, als läge ich an Deck eines Schiffes, dem ein anderes durch den Nebel zuruft. Meine Zunge schmerzt. Ich bewege sie und spüre, dass sie dicker ist als sonst, geschwollen. Vielleicht habe ich auf sie gebissen, als ich ins Wasser fiel. Mit der rechten Hand taste ich den Kopf ab. Eine Beule sitzt darauf wie ein kleiner alberner Hut.
Ich stelle mir vor, wie ich aufstehe und das Krankenhaus verlasse. Aber ich bin müde. Arme und Beine fühlen sich zu schwer an, als dass ich sie bewegen könnte. Außerdem bin ich so gut wie nackt. Meine Kleider und Schuhe hat man mir abgenommen, was ich sonst dabeihatte, weiß ich nicht. Und eigentlich will ich gar nicht weg. Wohin sollte ich denn gehen? Das Hotel war schäbig und bevölkert von alten Männern. Dorthin will ich nicht zurück.
Eine Schwester, von der ich nur den unglaublich dicken Körper wahrnehme, betritt das Zimmer und stellt sich ans Fußende des Bettes. Ich starre an die Decke. Wenn ich nie mehr rede, lässt man mich vielleicht in Ruhe. Die Schwester sieht, dass ich nicht schlafe. Bestimmt hat man ihr gesagt, ich sei der Stumme aus dem Meer. Jedenfalls geht sie weg, ohne ein Wort an mich zu richten. Ihr Duft, Desinfektionsmittel und Schweiß, bleibt da.
Ich fahre durch einen hellen Tunnel. Schliefe ich, würde ich erwachen. Es ist still. Licht fließt an den Scheiben vorbei. Der Hund liegt am leuchtenden Rand der Straße, sein Fell bewegt sich im Wind. An seinem Hals erkenne ich ein rotes Band, vielleicht ist es auch Blut. Ich rufe dem Fahrer zu, er solle anhalten, aber er hört mich nicht, aus meinem Mund kommen keine Worte. Alles wird weiß, immer weißer, als falle Schnee. Wir fahren weiter, hinein ins blendende Herz. Wäre ich wach, würde ich die Augen schließen. Ich erkenne Dinge und versuche mich an ihre Bedeutung zu erinnern. Alles liegt weit zurück, viele Atemzüge, viele Jahre. Der Körper des toten Hundes löst sich auf, sein gleißender Rand wandert in die Mitte und schmilzt. Ich sehe ihm nach und forme einen Namen, schreibe ihn an die Scheibe, spiegelverkehrt, verschwindend.
Als ich aufwache, ist es noch immer dunkel. Das Geräusch meines Atems füllt den Raum. Ich spüre den Druck auf meiner Blase, ein leichtes Stechen, heftiger als die Kopfschmerzen. Wasser will meinen Körper verlassen, was gut ist. Der Gedanke, dass wir zu achtzig Prozent aus Flüssigkeit bestehen, ist mir zuwider. Ich taste nach einem dieser Plastikgefäße, in die man sich erleichtern kann, finde aber nichts, auch nicht auf den Regalen der Kommode, die neben dem Bett steht.
Den Mann nehme ich erst wahr, als er sich aufrichtet. Er ist ein schwarzer Berg, auf dessen Kuppe eine kurz gehaltene Wiese steht. Statt erschrocken bin ich empört über seine plötzliche Anwesenheit. Ich frage mich, seit wann er im Zimmer ist. Wurde er samt Bett hereingerollt, als ich schlief? War er schon vor mir da, verborgen von einem Vorhang, der zurückgezogen wurde? Ich lege mich wieder auf den Rücken, unterdrücke den Drang, Wasser zu lassen, und sehe an die Decke. Der Mann ächzt, vielleicht ist es auch sein Bettgestell.
«Bist du wach?«Seine Stimme ist tief und rasselt ein wenig, als würden die Worte durch einen Stollen aus grob gehauenem Stein kollern. Er räuspert sich, wartet.
«Ich weiß, dass du wach bist.«
Ich habe weder mit dem Arzt noch einer der Schwestern gesprochen und nicht vor, mit diesem Kerl zu reden. Ich schließe die Augen, obwohl mir klar ist, dass er es nicht sehen kann.
«Warum bist du hier?«
Weil man meine Abreise verhindert, mich in letzter Minute aus dem Flieger geholt hat. Weil meine Aufenthaltsbewilligung noch nicht abgelaufen ist, die Formalitäten mit dem Jenseits nicht geklärt sind. Weil jemand mutig war und selbstlos und schwimmen konnte. Weil ich Pech hatte.
Ein Seufzer dringt an mein Ohr. Vielleicht liegen da noch mehr Männer. Einer neben dem anderen, in einer endlosen Reihe von Betten. In einem Saal, dessen Dimension mir erst bewusst wird, wenn Tageslicht durch die Ritzen der Jalousie sickert.
«Ich weiß, warum.«
Ich warte, dass er noch etwas sagt, aber er schweigt. Ich höre, wie er sich wieder hinlegt, das Kissen zurechtknetet und ausatmet. Dann höre ich kein Geräusch mehr, nicht das leiseste. Es ist, als ob der Mann neben mir ausgeatmet hat und nun keine Luft mehr holt. Als ob er weggelegt wurde, wie die Puppe eines Bauchredners nach der Vorstellung weggelegt wird.
Ich lasse die Augen geschlossen. Draußen ist es jetzt so still wie im Zimmer. Der Harndrang fühlt sich an, als läge ein schweres Buch auf meinem Bauch. Ich gleite an farbigen Lichtern entlang. Ich drehe mich im Kreis. Meine Mutter heißt Maureen. Sie winkt mir zu und ruft meinen Namen.
Der Mann ist samt Bett verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Da, wo ich ihn zu sehen glaubte, ist nichts. Links von mir, wo jetzt die neue Schwester steht und meinen Puls misst, sind es keine fünfzig Zentimeter bis zur Wand. Neben der Kommode wäre genug Platz für ein Bett, aber er ist leer. Ich würde die Schwester fragen, will aber mein Vorhaben, nicht mehr zu sprechen, auf keinen Fall aufgeben. Die Schwester ist alt und ihre braune Haut faltig. Ihr Geruch erinnert mich an etwas. Seife und Hühnersuppe. Aber landet man nicht immer bei Seife und Hühnersuppe, wenn man nach den Ursprüngen eines Geruchs sucht? Sie bettet meinen Arm zurück auf die Decke, trägt etwas in eine Liste ein und schiebt sie in die Halterung am Fußende des Bettes. Dann klappt sie den Deckel des Wasserkrugs hoch, sieht, dass er voll ist, murmelt etwas auf Spanisch und verlässt das Zimmer.
Bestimmt wird gleich der Arzt kommen. Er wird mir wieder Fragen stellen, und es ist Zeit, dass ich mir eine Strategie zurechtlege. Wenn ich stumm bleibe, werde ich dieses Bett eine Weile behalten können. Ich erinnere mich an das Hotelzimmer, sehe den Kleiderschrank vor mir, schwarz und scheinbar bodenlos, ein Schacht, in dem Drahtbügel hängen wie Skelette von Fledermäusen. Das Fenster sehe ich und die Hauswand dahinter, die Leitungen und Rohre, die zugemauerten Öffnungen und die Tauben, die paarweise darin hocken. Und ich kann das abgegriffene Bild sehen, das ich nur deshalb fand, weil ich die Bibel aus der Nachttischschublade genommen und auf den Flur gelegt habe, so wie andere Gäste ihre Schuhe vor die Tür stellen.
Dorthin will ich nicht zurück, lieber bleibe ich hier. Nachts drang Musik aus billigen Radios durch die Wände und das Husten alter Männer. War es einmal still, hörte ich das Ächzen der Stahlseile, die den Aufzug durch die Stockwerke schleiften. Im Geist zähle ich alle Dinge auf, die meinen Koffer, der unter dem Hotelbett liegt, nicht einmal zur Hälfte füllen.
Meine Zunge liegt trocken im Mund, pelzig, wie aufgeplustert. Ich schlüpfe aus dem Bett. Auf der Kommode steht ein Glas Wasser. Ich schütte den größten Teil davon zurück in den Krug und trinke die Tropfen aus dem Glas, wiederhole den Vorgang, bis ich nicht mehr durstig bin. Der Boden unter meinen nackten Füßen ist kühl, meine ersten Schritte sind unsicher, als ginge ich auf spitzem Kies. Das Hemd, hinten aus irgendeinem Grund offen und nur von zwei Bändeln zusammengehalten, geht mir bis über die Knie. Zum Glück hängt nirgends ein Spiegel. Ich betaste die Beule und fühle erst jetzt die verkrustete Stelle, die sich darauf gebildet hat.
Der Flur vor dem Zimmer ist leer. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und gehe nach links. Nach rechts kann ich nicht, da ist nur eine Wand mit einem Fenster, weit oben, unerreichbar. Auf beiden Seiten des Flurs sind Türen. Beim Gehen fühle ich die volle Blase als dumpfen Druck. Meine Beine sind steif und taub, die Füße stecken in unsichtbaren Stiefeln, an denen schwere Erde klebt. Ich stakse den Gang entlang, biege um eine Ecke, komme an ein Treppenhaus. Ich gehe hinunter, glaube, Stimmen zu hören. Um nicht zu fallen, greife ich mit beiden Händen das Geländer, bewege mich seitwärts. Musik, wie sie in Kaufhäusern gespielt wird, weht nach oben.