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Man stelle sich, soweit dies möglich ist, 100 000 Unglückliche vor, die Schultern mit einem Quersack beladen und auf lange Stäbe gestützt, aufs absonderlichste mit Lumpen behangen, von Ungeziefer wimmelnd und allen Schrecknissen des Hungers preisgegeben. Man denke sich zu diesem Menschenhaufen, schon an sich einem Beweise des gräßlichsten Elends, noch die von so vielen Leiden zeugenden Gesichter hinzu: man vergegenwärtige sich diese blassen, von dem Kot der Biwaks bedeckten, von Rauch geschwärzten Menschengestalten mit hohlen erloschenen Augen, verworrenen Haaren, langem und stinkendem Bart: und doch wird man nur einen schwachen Schattenriß des Bildes haben, das die Armee darbietet.

Wir krochen mühsam, uns selber überlassen, in der Schneewüste auf kaum bemerkbaren Wegen durch Steppen hindurch und unendliche Fichtenwälder.

Hier unterlagen Unglückliche, an denen Krankheit und Hunger schon lange gezehrt, der Last ihrer Leiden und verendeten unter Folterqualen, eine Beute der grimmigsten Verzweiflung. Dort warf man sich mit Wut über den her, bei dem man Lebensmittel vermutete, und entriß sie ihm trotz seinem hartnäckigsten Widerstand und seinen gräßlichen Flüchen.

An einer Stelle hörte man das Geräusch der von den Pferden unter die Füße getretenen oder von den Wagenrädern zerquetschten Leichname, an einer andern das Schreien und Stöhnen der Opfer, denen die Kraft ausgegangen war, und die, auf dem Wege liegend und mit letzter Anstrengung gegen diesen entsetzlichen Tod ankämpfend, in Erwartung des Sterbens doppelt starben.

Dort wieder schlugen sich um das Aas eines Pferdes gierige Gruppen bei der Verteilung der Fetzen. Während die einen die äußeren fleischigen Teile abschnitten, gruben sich die andern bis zum Gürtel in die Eingeweide ein, um Herz und Leber herauszureißen.

Auf allen Seiten Unheil verkündende, entsetzte, durch Frostbeulen verstümmelte Gesichter! Mit einem Wort, überall Bestürzung, Schrecken, Hunger und Tod!

Um den Andrang dieser entsetzlichen Leiden, die auf unserem Haupte lasteten, auszuhalten, mußte man mit einer kraftvollen Seele und einem unerschütterlichen Mute ausgerüstet sein. Die unerläßliche Bedingung war, daß die moralische Kraft im selben Maße wuchs wie die Gefährlichkeit der Umstände. Sich durch den Anblick der beklagenswerten Szenen, deren Zeuge man war, angreifen lassen, hieß sich selbst verurteilen: man mußte sein Herz jedem Gefühl des Mitleids verschließen. Wer glücklich genug war, in seinem Innern eine hinlängliche Widerstandskraft gegen so viele Übel zu finden, der entwickelte die kälteste Fühllosigkeit und die unzerstörbarste Festigkeit.

Man sah solche Männer mitten unter dem Grausen, das sie umgab, ruhig und unerschrocken alle Wechsel ihrer Lage ertragen, alle Gefahren verachten und durch den ununterbrochenen Anblick des Todes, der sich ihnen unter den abscheulichsten Gestalten aufwies, sich daran gewöhnen, ihm ohne Schaudern wahrhaft ins Auge zu schauen.

Taub gegen die Schmerzensrufe, die von allen Seiten in ihr Ohr tönten, wendeten sie sich, wenn solch ein Unglücklicher neben ihnen zusammensank, kalt ab und setzten ohne die geringste Gemütsbewegung ihren Weg fort.

So blieben diese unglücklichen Opfer verlassen auf den Schneemassen; solange sie die Kraft hatten, hielten sie sich aufrecht, dann sanken sie allmählich zurück, ohne von irgendeinem menschlichen Wesen ein Trosteswort zu hören, ohne daß jemand die Pflicht gefühlt hätte, ihnen auch nur den geringsten Beistand zu leisten. Unaufhörlich marschierten wir mit großen Schlitten, stumm, zu Boden starrend, vorwärts und machten nur mit sinkender Nacht halt.

Von Ermattung und Hunger überwältigt, hatten wir auch dann noch keine Ruhe. Es galt, unter allen Umständen, wenn auch keine Wohnung, so doch wenigstens Schutz gegen die Härte des eisigen Windes zu finden. Man stürzte sich in die Häuser, in die Scheunen, die Gehöfte und jeden Bau, den man blicken konnte. In wenigen Augenblicken war man dermaßen darin eingepfropft, daß niemand mehr herein noch hinaus konnte. Wer inwendig keinen Platz mehr gewinnen konnte, machte sich vor der Tür, hinter den Mauern und in der Nähe zurecht. Die erste Sorge war, sich Holz und Stroh zu besorgen. Zu diesem Ende erkletterte man die benachbarten Häuser und nahm zuerst das Strohdach weg, und, wenn dies nicht zureichte, riß man Bretter und Balken von den Giebeln, und am Ende zerstörte man Stück für Stück, das ganze Haus, bis es dem Erdboden gleich war, trotz des Widerstands derer, die sich darein geflüchtet hatten und es nach Leibeskräften verteidigten. Wurde man nicht auf diese Weise aus den Hütten verjagt, wo man ein Asyl suchte, so riskierte man, darin von den Flammen verzehrt zu werden: denn oft warfen die, die nicht in das Haus eindringen konnten, Feuer hinein, um die darin befindlichen zu vertreiben. Besonders geschah dies immer, wenn höhere Offiziere sich eines solchen nach der Vertreibung früherer Besitznehmer bemächtigt hatten.

So mußte man sich denn entschließen, die Nacht über zu kampieren. Zu dem Ende pflegte man oft, statt sich in die Häuser einzuquartieren, sie vom Giebel bis zum Grundstein zu schleifen und ihre Bestandteile mitten im Freien zu zerstreuen, um sich abseits Zufluchtsstätten zu bereiten. Hatte man sich solche, wie die Gelegenheit sie bot, verschafft, so zündete man Feuer an, und jedes Mitglied der kleinen Abteilung beeilte sich, bei der Bereitung des Nachtmahls zu helfen.

Während die einen Brei kochten, kneteten die andern Teig, den man in der Asche buk. Jeder zog aus seinem Zwerchsack gesammelte Pferdefleischschnitten und warf sie zum Braten unter die Kohlen.

Brei war die gewöhnlichste Nahrung. Aber was war das für ein Brei! Da man unmöglich Wasser herbeischaffen konnte, weil alle Quellen und Sümpfe bedeckt waren, ließ man in einem Kessel so viel Schnee zergehen, als man Wasser gewinnen wollte. Sodann rührte man in dieses Wasser, das schwarz und kotig war, eine Portion mehr oder minder grobes Mehl und ließ diese Mischung so lange einkochen, bis sie von breiiger Beschaffenheit war. Hierauf würzte man sie mit Salz oder warf in Ermangelung dessen 2–3 Patronen hinein, die ihm durch den Pulvergeschmack die abscheuliche Fadheit benahmen und ein dunkles Kolorit gaben, wodurch er nicht wenig an die schwarze Suppe der Spartaner erinnerte.

Während man diesen Kleister bereitete, legte man in schmale Streifen geschnittenes Pferdefleisch auf die Kohlen, das man gleichfalls mit Kanonenpulver würzte. Nach dem Genuß dieses Mahles schlief jeder, von Strapazen ermüdet und unter der Last seiner Leiden erliegend, fast augenblicklich ein, um am folgenden Morgen das gleiche Leben wieder zu beginnen.

Mit Tagesanbruch erhob sich, ohne daß irgendein Signal das Zeichen zum Aufbruch gegeben hätte, die ganze Masse von freien Stücken aus ihrem Biwak und bewegte sich weiter… [Fußnote]

So verflossen zwanzig Tage. In ihrem Verlaufe hinterließ die Armee auf ihrem Pfade 200 000 Menschen und Kanonen. Dann mündete sie in die Beresina, wie ein Waldstrom in einen Abgrund.

Am 5. Dezember, während die Reste der Armee sterbend in Wilna lagen, reiste Napoleon auf die dringenden Bitten des Königs von Neapel, des Vizekönigs von Italien und seiner bedeutendsten Heerführer im Schlitten von Smorgoni nach Frankreich. Damals war die Kälte auf 27 Grad unter Null gestiegen.

Am 18. abends traf Napoleon in einem Gefährt am Tor der Tuilerien ein, das man ihm anfangs gar nicht öffnen wollte, weil ihn alle noch in Wilna vermuteten.

Am dritten Tage brachten die höchsten Behörden und Körperschaften des Reiches ihre Glückwünsche zu seiner Ankunft dar.