„Ihr müßt bereits sehr weit herumgekommen sein, Herr?“
„Sehr weit“, nickte der Fremde.
„Das sieht man an den vielen Stempeln, welche da im Buch stehen. Lesen kann ich es freilich nicht, aber es wird wohl richtig sein. Nicht wahr?“
„Es stimmt.“
Da trat die Frau herein und setzte die Schüssel auf den Tisch. Sie enthielt Milch. Daneben legte sie ein Stück Brot zum Hineinbrocken. Das war die ganze Mahlzeit. Während sich der Fremde mit mehr Hunger als Appetit darübermachte, fragte sie den Wirt, welcher das Wanderbuch jetzt eben in ein Schränkchen schloß:
„Stimmt es, Vater?“
„Ja, es sind Namen und Stempel darin.“
Sie musterte den Esser abermals sehr sorgsam und flüsterte dann:
„Er scheint armer, aber braver Leute Kind zu sein.“
„Ja“, nickte der Alte.
„Und man hat ihm seine Fiedel gestohlen.“
„Eben! Er dauert mich!“
„Du, wollen wir?“
„Ja, ich denke.“
„Gut. Willst du es ihm sagen?“
„Sage du es lieber, Alte! Ich weiß, es macht dir Freude.“
Sie nickte vergnügt und wendete sich an den Fremden:
„Hört, Herr, wir haben Euch erst mit Mißtrauen betrachtet.“
„Das habe ich leider bemerkt“, meinte er freundlich.
„Jetzt aber meinen wir, daß Ihr wohl kein Stromer seid.“
„Das bin ich allerdings nicht, liebe Mutter.“
Bei den letzten beiden Worten warf die Alte einen stolzen Blick auf ihren Mann, denn so war sie noch von keinem Gast genannt worden; dann sagte sie:
„Darum meinen wir beide, daß Ihr auf dem Heuboden schlafen sollt.“
„Ah, auf dem Heuboden?“ fragte er, innerlich doch ein wenig enttäuscht.
„Ja. Wir wollen Euch nicht dahin tun, wo gewöhnliche Leute schlafen, denn Ihr habt so etwas Gutes und Apartes an Euch.“
„Ich danke Euch herzlich. Aber wo schlafen denn hier die gewöhnlichen Leute?“
„Im Ziegenstall.“
„Ah, im Ziegenstall. Sind Ziegen drin?“
„Zwei. Dort aber liegt nur Laubstreu, und die ist feucht. Ihr könntet Euch erkälten. Hat Euch die Milch geschmeckt?“
„Sehr gut.“
„Ja, sie ist dahier auch von unseren zwei Ziegen. Aber, Alter, wolltest du denn nicht die Geschichte von der Kriegskasse erzählen?“
„Freilich, aber vor dir kommt man ja gar nicht zu Wort.“
„Na, so erzähle. Ich werde still sein.“
„Ja, erzählt!“ bat der Gast. „Ihr habt mich fast neugierig gemacht.“
„Oh, es ist nichts Lustiges, Herr. Also von dem Blücher habt Ihr bereits gehört?“
„Sehr viel.“
„Der kam im vorigen Jahre über den Rhein herüber, der doch uns Franzosen gehört. Er kam nach Toul, welches jenseits der Berge im Süden liegt, und schickte einen seiner Generäle, welcher Fürst Schischerbatoff hieß, mit 10.000 Feinden nach Void und Ligny. Dort lagen die Unsrigen mit einer großen Kriegskasse!“
„Ah, da haben wir ja die Kriegskasse!“
„Oh, wenn wir sie doch hätten! Die Franzosen waren zu schwach, um lange Widerstand leisten zu können. Besonders war es ihnen um die Kriegskasse zu tun.“
„Das läßt sich denken“, meinte der Fremde mit einem verständnisvollen Lächeln.
„Über die ebene Gegend hinüber nach der Marne zu konnte sie nicht gerettet werden.“
„Wohl weil die Deutschen zu viel Reiterei hatten?“
„Ja. Darum brach ein Hauptmann mit einer halben Kompanie auf, um sich mit ihr in die Berge zu schlagen und sie durch den Argonner Wald zu schaffen, immer der Meuse entlang.“
„Merkte dies der Feind nicht?“
„Nein. Sie entging ihm.“
„So ist sie gerettet worden.“
„Auch nicht. Es ist das eine sehr traurige Geschichte. Während des Marsches fielen bald von rechts und bald von links Schüsse auf die armen Leute. Bereits am ersten Abend hatten sie zwölf Mann verloren, bis zum zweiten ebensoviele.“
„Wer schoß?“
„Das war nicht herauszubekommen. Wenn man an die Stelle kam, wo der Schuß gefallen war, stand niemand mehr da.“
„Das war vorauszusehen.“
„Nach vier Tagen waren nur noch zehn Mann übrig, am fünften noch sechs und am sechsten noch vier. Diese kamen mit der Kasse nach Bouillon. Sie wollten weiter und forderten Bedeckung; aber weil wir dachten, daß wir erschossen werden würden wie die Soldaten, flohen wir in die Berge; wir wollten nicht mit.“
„Das war euch nicht zu verdenken.“
„Am nächsten Tag fand man die vier Grenadiere erschossen, gar nicht weit von hier; die Kasse aber war weg. Nach einigen Tagen hatten die Deutschen die Gegend verlassen, und es kam im geheimen eine Streifpartei der Unsrigen, welche nach der Kasse suchte. Sie erfuhren, was geschehen war, und wir mußten zur Strafe eine schwere Kontribution zahlen, durch welche wir vollends arm geworden sind.“
„Das ist allerdings sehr traurig für euch. Hat sich keine Spur der Kasse je wieder gezeigt?“
„Nein.“
„Und auch keine Spur der Schützen, welche damals die Bedeckungsmannschaften niedergeschossen haben?“
„Nein.“
„Hat man denn die Angelegenheit nicht gerichtlich untersucht?“
„Was denkt Ihr, Herr! Wir hatten ja Krieg, dann keine Regierung, dann eine, welche nichts galt. Es blieb eben alles, wie es war.“
„Vielleicht sind deutsche Nachzügler die Räuber gewesen?“
„Nein. Diese hätten unser Terrain nicht gekannt.“
„Oder französische Marodeurs?“
„Das ist eher möglich. Wir wollen lieber von der traurigen Geschichte schweigen. Sagt, geht Ihr jetzt direkt nach Paris zurück?“
„Ja.“
„So werdet Ihr das Glück haben, den großen Kaiser zu sehen?“
„Jedenfalls.“
„Ich wollte, daß ich an Eurer Stelle wäre. Ihr geht natürlich über Sedan?“
„Ja.“
„Berührt Ihr da vielleicht das Dörfchen Roncourt?“
„Das ist wohl möglich.“
„So versäumt ja nicht, nach dem dortigen Meierhof Jeannette zu gehen.“
„Jeannette? Ah, warum?“
„Weil dort das schönste Mädchen Frankreichs wohnt.“
„Was, Vater, Ihr seid noch für die Schönheit eines Mädchens begeistert?“
„Ja, welcher Franzose wäre das nicht? In allen Ehren, natürlich.“
„Ist diese Schönheit gar so groß?“
„Hm, ich bin kein Kenner, wie Ihr ja auch hier an meiner Alten ersehen könnt, aber man sagt es allgemein.“
Da ergriff endlich auch die Wirtin das Wort; hier konnte sie nicht schweigen.
„Was?“ fragte sie. „An mir kann man das sehen?“
„Daß ich kein Kenner bin? Ja.“
„Wie meinst du das?“
„Wenn ich Kenner wäre, hätte ich doch eine Schöne genommen!“
„Oh, das sagst du jetzt“, lachte sie vergnügt. „Du warst mit mir sogar sehr zufrieden.“
„Ja, eben weil ich kein Kenner bin.“
„Hm, ich denke, daß ich hübsch genug war, wenn auch freilich nicht eine Schönheit wie die vom Meierhof Jeannette. Ja, Herr, Ihr solltet sie wirklich sehen.“
„Ihr macht mir beinahe Lust, hinzugehen.“
„Tut es! Geht man weit, um ein schönes Bild anzusehen, warum soll man nicht dasselbe tun, um einen schönen Menschen zu betrachten.“
„Habt Ihr sie selbst gesehen?“
„Ja. Sie ist ja selbst hier bei uns gewesen.“
„Ah, zu Besuch?“
„Nein, nur für eine halbe Stunde, bis eine andere Deichsel da war.“
„Sie hatte wohl einen Unfall erlitten, diese schöne Person?“
„Freilich. Sie hatte nach Lüttich gewollt, um dort Verwandte zu besuchen. Hier in der Nähe brach die Deichsel am Wagen, und da war sie gezwungen, bei uns einzukehren. Sie fuhr gar nicht weiter.“
„So ist sie abergläubisch?“
„Herr, das Abbrechen der Deichsel bedeutet stets etwas Böses.“