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Mutter und Tochter fühlten die größte Angst vor dem, was jetzt kommen werde.

„Du darfst mich nicht fortweisen“, sagte Saadi mild und ruhig. „Du bist der Scheik, und ich habe mit dir zu sprechen.“

„Hast du mit Menalek oder mit dem Scheik zu sprechen?“

„Ich komme zum Scheik.“

„So rede, wenn die Frauen es hören dürfen.“

„Sie dürfen. Laß die Männer zusammenkommen und sage ihnen, daß heute nacht der Herr des Erdbebens kommen wird, um unseren Herden einen Besuch abzustatten.“

Der Löwe wird auch Herr des Erdbebens genannt, weil seine Stimme, besonders wenn sie in weiter Ferne erschallt, gerade so klingt, als ob die Erde bebte.

„Du bist toll!“ antwortete der Scheik.

„Ich habe seine Spur gesehen.“

„Wo?“

„In der Schlucht.“

„Du hast von der Katze geträumt, welche du mit den Giaurs getötet hast.“

„Ich weiß die Spur einer Katze von der eines Löwen zu unterscheiden.“

„Deine Augen sind vor Liebe blind. Geh nach dem Zelt deines Bruders, um dich auszuschlafen. Morgen wirst du bei Sinnen sein!“

„Dein Haß ist groß; aber er darf dich nicht veranlassen, deine Pflicht zu vernachlässigen. Wenn dem Scheik die Nähe des Löwen gemeldet wird, hat er sofort die Männer des Lagers zu versammeln.“

„Willst du mir drohen?“

„Nein. Aber wenn du es nicht selbst tust, so werde ich in das Horn stoßen.“

Er zeigte auf ein großes Büffelhorn, welches am Eingang des Zelts hing. Es hatte den Zweck, durch seinen Ton die Versammlung herbeizurufen.

„Wage es!“ sagte der Scheik.

Saadi trat trotz dieser Warnung hinzu. Da zog Menalek das Messer.

„Zurück! Wenn jemand ohne meine Erlaubnis näher tritt, so habe ich das Recht, ihn zu töten.“

Saadi blieb stehen und sagte ernst:

„Ich fürchte dein Messer nicht, aber ich achte die Gesetze des Stammes. Ich werde also deinem Zelt nicht zu nahe kommen; aber ich bitte dich zum letzten Mal, die Versammlung zu berufen.“

„Es fällt mir nicht ein, die Männer mit deinen Lügen zu belästigen.“

„Du bist ein freier Mann und hast deinen Willen, ich aber habe den meinigen auch. Ist es dir nicht passend, deine Pflicht zu erfüllen, so weiß ich, was ich zu tun gezwungen bin. Merke auf!“

Er legte zwei Finger an den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Dies war das Alarmzeichen der Beni Hassan.

„Was tust du?“ fragte Menalek erschrocken.

„Ich werde die Dschema zusammenrufen, um sie vor dem Löwen zu warnen und sie zugleich zu fragen, was der Scheik verdient, welcher es verschmäht, über die Seinigen zu wachen.“

Die Dschema ist die Versammlung der Ältesten. Sie hat über alle Angelegenheiten zu beraten und besitzt sogar die Macht, einen Scheik abzusetzen.

„Du zwingst mich?“ sagte der Scheik zornig. „Gut! Aber bedenke, daß es in meiner Macht steht, mich zu rächen.“

„Ich fürchte mich nicht vor dir, sobald es sich um meine Pflicht handelt.“

Als Saadi den Pfiff erschallen ließ, waren alle Männer von ihren Feuern aufgesprungen oder aus ihren Zelten getreten. Sie horchten nun auf das zweite Zeichen, um zu wissen, nach welcher Richtung sie sich zu wenden hätten. Jetzt setzte Menalek gezwungenerweise das Horn an den Mund und blies hinein. Kaum war der Ton erklungen, so kamen alle Männer herbeigeeilt. Die Frauen und Mädchen blieben zurück. Sie wußten, daß sie nicht die Erlaubnis hatten, an einer Beratung teilzunehmen. Selbst Liama und ihre Mutter mußten sich entfernen, damit sie kein Wort der Verhandlung hören konnten.

Es wurde ein großer Kreis gebildet, in dessen Mitte der Scheik trat.

„Hört, ihr Männer des Duars, was ich euch zu sagen habe“, begann er. Und auf Saadi zeigend, fuhr er fort: „Dieser Abtrünnige, welcher mit den Giaurs gereist ist, hat mich gezwungen, euch zu rufen, um euch zu sagen, daß der Herr des Erdbebens heute nacht zu uns kommen werde. Glaubt ihr das?“

„Das ist nicht wahr!“ rief die Stimme eines vorlauten jungen Mannes.

„Auch ich halte es für eine Lüge. Darum bitte ich euch um Verzeihung, daß ich gezwungen wurde, euch zu belästigen.“

Da meinte ein hochbetagter Greis, der mit zur Versammlung der Alten gehörte:

„Seit wann ist es bei den Beni Hassan Sitte, daß die Jungen ihre Stimmen erheben, ehe die Greise gesprochen haben? Seit wann ist es Sitte, ein Wort, welches zwar unwahrscheinlich klingt, ohne weiteres eine Lüge zu nennen? Wir haben seit vielen Jahren kein Tier unserer Herde verloren, aber warum soll es nicht Allah einmal gefallen, den Herrn des Erdbebens über uns zu senden? Ich fordere Saadi auf, uns zu sagen, was er gesehen hat!“

Die Würde des Alters übte einen solchen Einfluß aus, daß es dem Scheik gar nicht einfiel, zu widersprechen. Auch die übrigen gaben durch ihr Schweigen zu erkennen, daß sie mit dem Greis übereinstimmten. Darum trat Saadi hervor und sagte:

„Was ich gemeldet habe, ist die Wahrheit und keine Lüge. Ich befand mich in der Schlucht, welche nach dem Wadi Itel geht, da sah ich ganz deutlich die Spuren des Löwen. Sie waren groß. Dieser Würger der Herden ist ein sehr starkes und altes Tier.“

„Kennst du die Fährte des Löwen?“ fragte der Alte.

„Ja. Der Inglis, mit welchem ich zwei Jahre lang ritt, lehrte mich, die Spuren aller Tiere zu unterscheiden.“

„Aber wenn sich der Herr des Erdbebens in der Schlucht befände, würde er unsere Herden bereits längst besucht haben.“

„Er ist während der letzten Nacht von fernher gekommen.“

„Woraus siehst du das?“

„Die Spur führt bald dahin und bald dorthin. Er hat sich nach einem Lager umgesehen. Ich fand einen Stein, an welchem er sich die Krallen geschärft hatte. Er ist also hungrig und zum Raub bereit.“

„So glaube ich, daß du die Wahrheit sagst. Laßt uns beraten, was wir tun werden; aber die Alten werden sprechen, und die Jungen mögen schweigen.“

Die Beratung begann und war sehr kurz. Außer dem Scheik schenkten alle Saadis Bericht Glauben. Man beschloß, große Feuer anzubrennen und die Herden ganz in der Nähe der Zelte zu bringen. Kam der Löwe wirklich, so mußte man ihm sein erstes Opfer überlassen; morgen sollte dann aber eine Jagd auf ihn abgehalten werden.

Der Araber ist ein sehr schlechter Löwenjäger. Er wagt nur, das Tier in großer Überzahl und bei Tage anzugreifen, nie des Nachts. Dann wird so lange auf dasselbe geschossen, bis es vor Blutverlust aus meist leichten Wunden zusammenbricht, vorher aber mehrere der Jäger zerrissen hat.

Saadi war jung. Er hatte seine Pflicht getan und wagte nicht, eine andere Ansicht laut werden zu lassen.

„Ihr habt beschlossen; tut, was ihr wollt!“ meinte der Scheik. „Ich aber glaube nicht daran und werde mich an keinen Löwen kehren. Übrigens brauchen wir jetzt gar keine Sorge zu haben. Der Herr des Erdbebens holt sich nie vor Mitternacht seinen Fraß.“

In letzterer Beziehung gaben ihm die anderen recht; Saadi aber meinte:

„Die Ehrwürdigen mögen mir, obgleich ich jung bin, noch ein Wort gestatten!“

„Rede, mein Sohn!“ sagte der älteste der Alten.

„Ich habe bereits gesagt, daß der Herr des Erdbebens erst heute nacht gekommen ist. Vielleicht hat er einen weiten Weg zurückgelegt; er ist sehr hungrig. Er hat die Krallen geschärft; er ist also ungeduldig. Es ist leicht möglich, daß er bereits vor Mitternacht kommt.“

„Deine Worte sind wohl erwogen; aber ehe er kommt, wird er es uns melden.“

Der Löwe pflegt nämlich, wenn er auf Raub ausgeht, laut zu brüllen.

„Du hast recht“, meinte Saadi. „Aber es gibt dennoch alte, erfahrene Tiere, welche so schlau sind wie ein Panther. Sie brüllen erst dann, wenn sie ihre Beute zerrissen haben. Übrigens glaube ich nicht, daß der Herr des Erdbebens über die Ebene kommen wird. Er wird in der Schlucht heraufkommen, welche hier ganz in der Nähe mündet, und dann ist es zu spät, erst noch Maßregeln der Vorsicht zu treffen.“