„Was du sagst, ist gut. Laßt uns also sofort beginnen. Wir müssen die Herden so stellen, daß zwischen ihnen und der Schlucht sich das Duar befindet.“
Dies geschah. Nur der Scheik war trotz aller Bitten und Vorstellungen nicht dazu zu bewegen, seine Tiere jetzt schon in Sicherheit zu bringen. Er wollte Saadi nicht als Sieger anerkennen.
Dieser nahm mit seinem Bruder ein frugales Mahl ein. Der letztere besaß nur wenige Tiere, welche so nahe am Zelt untergebracht waren, daß sie vor einem Überfall vollständig sicher waren. Dann griff Saadi nach seiner Doppelbüchse, sah nach der Ladung und schickte sich an, zu gehen.
„Wohin willst du?“ fragte Abu Hassan besorgt.
„Ich will einmal nach den Herden sehen.“
„Was gehen sie dich an? Du begibst dich unnütz in Gefahr.“
Doch jener ging, und zwar gerade nach der Seite hin, auf welcher sich die Tiere des Scheiks befanden. Der leise Abendwind, welcher sich erhoben hatte, wehte gerade von der Schlucht herüber. Saadi war überzeugt, daß der Löwe von dort her kommen werde, und er wollte ihn erwarten. Der Scheik hatte ihn einen Feigling genannt, und er wollte ihm beweisen, daß er es nicht sei.
Darum legte er sich zwischen den Tieren und dem Ausgang der Schlucht auf den Boden nieder und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Rund um das Lager brannten hohe Feuer, von trockenen Akazienzweigen genährt. Die ganze Gegend war hell erleuchtet. Zeit um Zeit verging. Es konnte kaum mehr eine Stunde an Mitternacht fehlen. Da sah Saadi vom Duar her eine Gestalt kommen. Es war der Scheik, welcher nun den Knechten, die sich noch bei den Tieren befanden, den Befehl erteilen wollte, diese letztere in die Nähe der Zelte zu treiben. Um zu zeigen, daß er an Saadis Worte nicht glaube, kam er selbst herbei. Die Tiere wurden fortgetrieben. Der Scheik aber, um durch die Tat zu zeigen, wie sehr er Saadis Warnung verachte, schloß sich nicht an, sondern schritt langsam dem Ausgang der Schlucht zu.
In der Nähe derselben blieb er stehen. Sein weißer Burnus war weithin sichtbar, so daß man seine Gestalt im Lager deutlich sehen konnte. Die Stimmen seines Weibes und seiner Tochter ließen sich vernehmen. Sie baten ihn voller Angst, zurückzukommen. Er befand sich kaum zwanzig Schritte von Saadi entfernt, sah ihn aber nicht, denn dieser hatte seinen weißen Burnus nicht mitgenommen und lag in seinem dunklen Untergewand an der Erde, so daß er von derselben nicht unterschieden werden konnte.
„O Allah!“ hörte man Liama rufen. „Komm zurück, Vater! Der Löwe könnte kommen.“
„Schweig!“ rief er zurück. „Es gibt keine Katzen hier!“
Aber in demselben Augenblick war es, als ob die Erde unter ihm berste. Es erscholl gerade vor ihm ein tiefer, dumpf grollender Ton, der schnell zu einem lauten, mächtigen Brüllen anschwoll, mit welchem der stärkste Donner nicht verglichen werden kann, und sich dann zu einem Röcheln abdämpfte, welches nicht anders klang, als ob eine ganze Herde von Rindern im Sterben liege.
Bei diesen Tönen war die ganze Natur starr und stumm vor Schreck.
Auch der Scheik vermochte nicht ein einziges Glied zu bewegen. Er sah den Löwen langsam und majestätisch aus den Büschen treten, gerade da, wo Saadi es vermutet hatte. Es war ein gewaltiges, riesenhaftes Tier. Beim täuschenden Schein der flackernden Feuer schien er mehr als Ochsengröße zu besitzen.
Der Löwe schüttelte seine Mähne und senkte den Kopf. Er hatte den Scheik erblickt und stieß ein zweites Brüllen aus, bei dessen Klang jeder Lebensfunke im Körper Menaleks zu verlöschen schien. Der Löwe stand keine dreißig Fuß von ihm entfernt und duckte sich jetzt nieder, zum Sprung bereit. Drei Sekunden später mußte der Scheik verloren sein. Dies gab ihm die Sprache wieder.
„Ma una meded – zu Hilfe!“ rief, nein, brüllte er; aber ein Glied zu rühren vermochte er nicht.
„Siehst du, daß es hier Katzen gibt?“ klang es in seiner Nähe.
Ein Schuß krachte. Ein fürchterliches Brüllen antwortete. Ein zweiter Schuß folgte gedankenschnell. Der Scheik wurde mit fürchterlicher Gewalt zu Boden gerissen und verlor die Besinnung.
Als er erwachte und die Augen öffnete, sah er viele Leute um sich stehen. Mehrere hatten Fackeln in der Hand. Neben ihm knieten sein Weib und seine Tochter, ängstlich mit ihm beschäftigt.
„Was ist's? Wo bin ich?“ fragte er.
„Bei uns, mein Vater“, antwortete Liama. „Oh, Allah sei Dank, daß du lebst! Er hat dich aus der Gefahr des Todes errettet, als der Herr des Donners dich zerreißen wollte. Bist du verletzt?“
„Ich glaube nicht. Wo ist der Löwe?“
Er besann sich erst jetzt auf das, was geschehen war. Liama deutete hinter ihn.
„Hier liegt er“, sagte sie. „Kannst du dich erheben, um ihn zu sehen?“
Er richtete sich empor. Da lag der Löwe, der gewaltige Beherrscher der Wüste, tot und überwunden. Und bei ihm kniete Saadi, im Begriffe, ihm das Fell abzunehmen. Der Scheik erblickte ihn und fragte:
„Wer hat geschossen?“
„Saadi war es“, antwortete Liama.
„Saadi!“
Es lag ein ganz eigentümlicher Ausdruck in diesem Wort, welches der Scheik aussprach. Er versuchte, sich zu erheben, und es ging. Er trat zu dem Jüngling, betrachtete mit Blicken des Entsetzens die seltene Größe des fürchterlichen Tiers und fragte:
„Saadi, du warst es, der mich rettete?“
„Ich war es, o Scheik“, antwortete der Gefragte. „Allah ist gütig und gnädig; er hat es so gewollt. Ihm sei Dank, aber nicht mir.“
„Aber wie ist das gekommen?“
„Ich sah deine Herde in Gefahr und wußte, daß der Löwe kommen werde. Darum ging ich hinaus, ihm entgegen, um ihn zu erwarten. Da kamst du, und er trat dir entgegen. Du riefst um Hilfe, und ich schoß. Meine Kugel glitt am Stirnknochen ab und drang nicht in das Auge, wie ich es gewollt hatte. Er sprang auf dich ein, aber mitten im Sprung traf ihn meine zweite Kugel in das Herz. Er riß dich zwar nieder, aber verwundete dich nicht. Jetzt liegt er tot hier, und du stehst lebend vor ihm. Allah sei Dank, der Herr ist über Leben und Tod.“
Der Scheik vermochte nicht zu antworten; tausend mächtige Gefühle stürmten auf ihn ein. Er vergegenwärtigte sich den Augenblick der Gefahr; er sah den Löwen augenrollend vor sich stehen, er hörte den markerschütternden Ton seiner gewaltigen Stimme, er vergegenwärtigte sich den Augenblick, in welchem die Glieder des Raubtiers sich zum tödlichen Sprung bogen, und er hatte nicht Kraft genug, zu verhüten, daß bei dieser Erinnerung ein Zittern sich seines Körpers bemächtigte. Er reichte Saadi die Hand und sagte:
„Du hast mich vom Tod errettet. Du bist klüger als ich, und Allah hat dir ein mutiges Herz gegeben, welches nicht erbebt vor dem Herrn des Donners. Willst du vergessen, daß ich dich beleidigt habe?“
Die Augen des jungen Mannes leuchteten vor Entzücken.
„Alles, was du zu mir sagtest, soll so sein, als ob ich es nicht gehört hätte“, antwortete er. „Du bist der Scheik, und ich darf dir nicht zürnen.“
„So komm zu mir, sobald du das Fell des Löwen genommen hast.“
Menalek ergriff die Hand seines Weibes und seiner Tochter und schritt mit ihnen seinem Zelt zu.
„Kannst du den Retter nun noch hassen?“ wagte die Mutter zu fragen.
„Ich liebe ihn“, antwortete er. „Er hat gezeigt, daß ein Jüngling zuweilen einen Alten beschämen kann.“
Er gestand diese Beschämung ein, ohne sich von derselben zur Bitterkeit fortreißen zu lassen. Er war ein stolzer, aber auch ein einsichtsvoller Mann.
Die meisten der Zeltbewohner blieben bei Saadi zurück, um die außerordentliche Größe des Löwen zu bewundern. Dieser war jedenfalls eines jener alten Tiere, welche in Einsamkeit leben und selbst zu ihresgleichen in immerwährender, grimmiger Feindschaft stehen. Solche Exemplare werden, gerade wie bei den Elefanten, Einsiedler genannt und sind wegen ihrer Erfahrung, List und Verschlagenheit doppelt gefährlich.