Das Geständnis des Hadschi Omanah
Da, wo die Höhen des Auresgebirges im Westen des Wadi el Arab sich nach Südosten allmählich zur Ebene niedersenken, sind sie von tiefen, steilen Einschnitten und Schluchten zerrissen, welche das Gebirge nur sehr schwer zugänglich machen. In diesen Schluchten hausen der Löwe und der schwarze Panther; das Geschrei der Hyänen und Schakale erschallt des Nachts, und nur selten trifft man einen Menschen, welcher es wagt, in die tiefe und gefährliche Einsamkeit dieser Gegend einzudringen.
Ein einziger Ort war hiervon ausgenommen.
Stieg man im Tal des Wadi Mahana empor, so gelangte man an einen mit außerordentlich starkem Baumwuchse bedeckten Vorberg, welche wie ein riesenhafter Altan aus der Masse des Gebirges trat. Der ihn bedeckende Wald gab ihm ein düsteres Aussehen. Aber von diesem Dunkel stach ein glänzend weißer Punkt ab, welchen man oben fast auf der Spitze des Berges bemerken konnte. Es war dies ein weißgetünchtes Bauwerk, klein und unscheinbar, aber doch berühmt im Umkreise von vielen, vielen Meilen.
Dort oben hauste der fromme Marabut Hadschi Omanah, zu dessen Wohnung Tausende pilgerten, um dort ihr Gebet zu verrichten und dann mit dem Bewußtsein heimzukehren, eine Allah wohlgefällige Handlung getan zu haben.
Früher hatte mancher den Marabut gesehen, wenn er aus seiner weißgetünchten Hütte trat, um mit erhobenen Händen die Gläubigen zu segnen. Jetzt aber erschien sein Sohn an der Tür und brachte den Betenden den Segen seines Vaters, welcher die Wohnung nicht mehr verließ.
Woher der Marabut stammte, und wie er ursprünglich geheißen hatte, daß wußte niemand. Er nannte sich Hadschi Omanah, und sein Sohn wurde infolgedessen Ben Hadschi Omanah geheißen, daß ist der Sohn des Mekkapilgers Omanah.
Ungefähr fünf Tage nach den oben erzählten Ereignissen hielten zwei Männer inmitten eines dichten Gebüsches am Fuß des Berges. Sie hatten sich mit ihren Pferden hier herein gearbeitet und führten ein halblautes Gespräch miteinander. Es war niemand anderes als Richemonte und sein Verwandter.
„Du glaubst, daß die Pferde hier sicher sind?“ fragte der letztere.
„Ja.“
„Aber wenn doch jemand kommen sollte!“
„Hierher? Wer sucht Pferde in diesem Dickicht? Übrigens ist jetzt nicht die Zeit der Pilgerwanderungen. Steck deine Waffe zu dir, und komm!“
„Wann werden wir oben anlangen?“
„Es führt kein eigentlicher Weg hinauf. Stunden vergehen sicherlich, ehe wir die Höhe erreichen.“
„So wird es ja dann Nacht.“
„Eben das ist ja meine Absicht!“
Der andere blickte Richemonte fragend an.
„Was wollen wir des Nachts da oben? Wird er da zu sprechen sein?“
„Zu sprechen? Was fällt dir ein. Will ich denn mit ihm sprechen?“
„Was sonst? Wie willst du anders ihn aushorchen oder Auskunft über ihn erlangen?“
„Dummkopf! Deine Liebe zu der Maurin hat dich wirklich um den Verstand gebracht. Dieser Marabut wohnt mit seinem Sohn oben. Sie werden nicht stumm sein, sondern miteinander sprechen. Sie werden sich über ihre Lage, über ihre Vergangenheit unterhalten. Wer dies belauschen kann, wird dieses erfahren. Das Lauschen aber ist am leichtesten abends, wenn es dunkel ist. Binde das Pferd so an, daß es Raum hat, die Blätter abzufressen, und dann wollen wir keine weitere Zeit verlieren.“
Die beiden sahen sich gezwungen, sich durch dichtes Gestrüpp und über zahlreiche Felsentrümmer langsam und mühselig empor zu arbeiten. Als sie den Aufstieg begannen, war bereits die erste Hälfte des Nachmittags verstrichen, und als sie endlich oben anlangten, hatte die Sonne soeben den westlichen Horizont erreicht.
Sie hielten unter den Bäumen, wo sie nicht bemerkt werden konnten, und sahen eine nicht tiefe, aber breite, lichte Stelle vor sich, auf welcher sich die Hütte des Eremiten befand. Diese war aus rohen Steinen errichtet und mit Kalk angestrichen, so daß sie, von früh bis abends von der glühenden Sonne getroffen, auf Meilenweite hinaus in die Ebene leuchtete.
„Wird er zu Hause sein?“ flüsterte der Cousin.
„Natürlich! Oder hast du nicht in Seribet Ahmed gehört, daß er die Hütte nie mehr verläßt?“ antwortete Richemonte.
„Ich meine den Sohn.“
„Das ist etwas anders. Wir müssen es abwarten.“
Sie brauchten nicht lange zu warten, so sahen sie einen Menschen; aber er trat nicht aus der Hütte des Marabut, sondern er kam aus den gegenüberliegenden Büschen und schritt auf die letztere zu.
Sein Gesicht war gebräunt, er mochte gegen dreißig Jahre zählen und trug einen langen, kamelhärenen Burnus, welcher mit einem derben Strick um den Leib befestigt war, sowie einen grünen Turban, ein Vorrecht derjenigen Moslemin, welche von dem Propheten abstammen. Waffen waren bei ihm nicht zu sehen, aber an dem Strick hingen mehrere kleine Säckchen, welche verschiedenes zu enthalten schienen.
Beim Anblick der untergehenden Sonne hielt er seinen Schritt inne. Er wendete sich dem Osten zu, in der Richtung nach Mekka, kniete nieder und verrichtete mit lauter Stimme sein Abendgebet. Aus der offenstehenden Hütte antwortete eine zweite Stimme, deren Ton ein müder, dumpfer war.
Als der Beter geendet hatte, schritt er, nachdem er sich vom Boden erhoben hatte, auf die Hütte zu und trat in dieselbe ein. Ihr Inneres war geradezu armselig. Auf dem Boden lag eine breite Schicht von Moos, in einem Mauerloch ein aufgeschlagenes Buch, der Koran in arabischer Sprache, und in einer Ecke erblickte man einige alte Töpfe und Tiegel, denen man es ansah, daß sie zur Zubereitung von Pflastern und Salben dienten.
Auf dem Moos lag eine menschliche Gestalt, welche in ein ähnliches härenes Gewand eingehüllt war. Man sah nur dieses Gewand, den grünen Turban und ein unendlich hageres, eingefallenes Gesicht, welches mehr einem toten als einem lebenden Wesen anzugehören schien.
„Sallam!“ grüßte der Eintretende.
„Sallam!“ antwortete der Alte auf dem Lager. „Gab Allah seinen Segen?“
„Ja, Vater. Der Kranke wird genesen.“
„Allah sei Dank. Er gibt Freude den Sündern und Bußfertigen.“
Der Alte sprach sehr langsam und fast leise. Man hörte deutlich, daß ihm das Reden schwer wurde. Und wie sich unter dem schlechten Gewand seine Brust fieberhaft hob und senkte, hatte es ganz das Aussehen, als ob er ein Sterbender sei, dessen Geist im Begriff stehe, mit den letzten, hastigen Atemzügen den befreienden Weg aus dem schwachen, engen Körper zu suchen.
Der Angekommene öffnete die kleinen Säckchen und Schachteln und entnahm ihnen mehrere Büchsen und Schachteln, welche er zu den Töpfen und Tiegeln legte. Der Alte beobachtete dies schweigend, während seine sehr tiefliegenden Augen mit dem Ausdruck innigster Liebe jeder Bewegung des Sohnes folgten. Dann sagte er:
„Hast du sonst heute nichts Gutes getan, mein Sohn?“
„Leider, nein, mein Vater“, lautete die Antwort. „Vielleicht ist es sogar etwas Böses, was ich getan habe.“
„Allah behüte dich davor. Das Böse ist wie das Raubtier, welches man jung aufzieht; es frißt später seinen eigenen Herrn.“
„Ich hätte es nicht getan, aber die Sprache der Franken war daran schuld.“
„Die Sprache der Franken? Erzähle!“
„Ich war bei einigen Kranken gewesen und ging hinüber nach dem Wadi Sofama. Unterwegs suchte ich im Wald heilsame Kräuter, als ich plötzlich Stimmen von Menschen hörte.“
„Im Wald von Sofama, wo jetzt der Panther haust?“
„Ja. Die, welche miteinander sprachen, wußten von dem Panther nichts; sie waren fremd, denn sie redeten französisch.“
Der Blick des Alten belebte sich ein wenig.
„Französisch!“ sagte er. „Wie waren sie gekleidet?“
„Wie Beduinen. Auch hatten sie Pferde bei sich. Es waren ihrer zwei. Sie saßen an einem Baum. Ich stand ganz in der Nähe und konnte jedes Wort hören, welches sie sprachen.“
„Mein Sohn, hast du sie belauscht?“