„Wie strahlend nahm die Sonne Abschied von der Erde. Ich dachte, daß der Tag meines Lebens einst auch so herrlich enden werde; aber wie ist es geworden! Ich bin eingegangen wie die Pflanze, an welcher Würmer nagten.“
„Mein Vater, schone dich“, bat der Sohn.
Der Marabut beachtete dies nicht; er fuhr langsam fort:
„Ja Würmer, Würmer des Vorwurfs und der Reue. Mein Sohn, es gibt eine Last, welche größer ist als jede andere, es ist die Schuld.“
„Du hast diese Last niemals zu tragen gehabt, mein Vater.“
„Glaubst du? Oh, wie sehr irrst du dich doch! Nur die Reue kann sie vermindern. Und wie habe ich bereut. Der Glaube der Christen sagt, wer seine Sünden bekennt, dem sollen sie vergeben werden. Ich will meine Schuld nicht hinüber in das Jenseits nehmen, sondern ich will sie bekennen; ich will sie dir beichten, mein Sohn.“
„Mein Vater, deine Worte zerreißen mir das Herz.“
„Und dennoch muß du diesen bitteren Trank genießen, mir zur Liebe und Buße. Komm her zu mir. Setz dich neben mich nieder und höre, was ich dir zu sagen habe, vielleicht bietet mir dein Herz Verzeihung an.“
„O Allah! Was könnte ich dir zu verzeihen haben?“
„Viel, sehr viel, denn auch gegen dich habe ich gesündigt. Komm, dein sterbender Vater redet zu dir. Du sollst in seine Seele blicken und Geheimnisse erfahren, von deren Dasein du bis jetzt keine Ahnung hattest.“
Die beiden Lauscher hörten jedes Wort.
„Was werden wir jetzt erfahren!“ flüsterte der Cousin.
„Still!“ antwortete Richemonte. „Es darf uns kein Wort des Gespräches entgehen. Horch, er beginnt!“
Der Kranke war während dieser kurzen Pause beschäftigt gewesen, ein Paketchen aus seinem härenen Gewand hervorzuziehen. Er hielt dasselbe seinem Sohn hin und sagte:
„Öffne das!“
„Was ist darin, mein Vater?“
„Ein kostbares Eigentum, welches dir gehört.“
Der Sohn entfernte den Umschlag und brachte einige wohl verwahrt gewesene Papiere zum Vorschein. Es war gerade noch hell genug, die auf denselben befindlichen Schriftzüge zu lesen.
„Oh, Allah, das sind ja Worte in der Sprache der Franken“, sagte er.
„Ja“, antwortete sein Vater. „Du sollst jetzt erfahren, warum ich dich gelehrt habe, die Sprache der Franzosen und Deutschen zu sprechen und zu lesen. Du sollst hören, aus welchem Grund ich dein Lehrmeister gewesen bin in allem, was die Franken können und verstehen. Wir nennen sie Giaurs und Ungläubige; aber sie sind viel klüger und weiser als der Moslem, welcher sie verachtet. Lies diese Papiere, mein Sohn. Sie werden dir ein großes Geheimnis enthüllen.“
Der Sohn gehorchte. Er faltete das erste Dokument auseinander. Es war mit einem Amtssiegel und einer behördlichen Unterschrift versehen. Als er fertig war, blickte er seinen Vater befremdet an und sagte:
„Das ist der Geburtsschein eines Knaben, welcher Arthur de Sainte-Marie heißt, lieber Vater?“
„Ja“, nickte der Alte.
„Sein Vater ist der Baron Alban de Sainte-Marie auf Schloß Jeannette?“
„Ja, mein Sohn.“
„Wo liegt dieses Schloß, mein Vater?“
„Im schönen Frankreich, in der Nähe der Stadt Sedan.“
„Dieser Alban war also von Adel. Die Mutter des Knaben aber hat, wie ich hier sehe, nur Berta Marmont geheißen. Sie war also nicht von Adel?“
„Nein. Sie stammte aus einem einfachen Wirtshaus.“
„Und doch habe ich gehört, daß bei den Franken nur solche Personen Mann und Weib werden, welche gleichen Standes sind.“
„Das ist im allgemeinen der Fall; doch kommen auch Ausnahmen vor. Aber nimm das zweite Papier!“
Der Sohn tat dies. Als er es gelesen hatte, meinte er:
„Es handelt von demselben Knaben. Es ist sein Taufzeugnis. Er ist einige Wochen nach seiner Geburt in Berlin getauft worden. Zeugen waren drei Personen der Familie Königsau. Ah, mein Vater, das ist ja der Name des Lieutenants, welcher überfallen werden soll.“
„Allerdings. Aber lies auch die übrigen Papiere!“
Der Sohn gehorchte und erklärte der Reihe nach:
„Hier ist das Geburtszeugnis des Barons Alban de Sainte-Marie. Hier ist der Schein über seine Trauung mit jener Berta Marmont. Dann sehe ich hier einige seiner Pässe, und da am Ende finde ich einige Briefe, welche von einem Notar an ihn gerichtet sind.“
„Das alles stimmt. Und du, mein Sohn, hast nicht die mindeste Ahnung, wie nahe dich alle diese Schriften angehen.“
„Mich? Was könnte ich mit ihnen zu schaffen haben? Ich bin niemals auf Schloß Jeannette oder in Berlin gewesen.“
„Und dennoch warst du an beiden Orten.“
„Ich?“ fragte der Sohn verwundert.
„Ja, du warst daselbst; nur war damals dein Alter zu gering, als daß du dich jetzt noch darauf besinnen könntest. Rechne einmal nach, wie alt dieser Knabe Arthur de Sainte-Marie jetzt sein müßte.“
Der junge Mann nahm den Geburtsschein zur Hand, rechnete und sagte dann:
„Gerade so alt wie ich, nämlich neunundzwanzig Jahre.“
Der Alte schwieg eine Weile; dann sagte er langsam und sinnend:
„Ja, neunundzwanzig Jahre. Welch eine lange, lange Zeit! Und wie dunkel und drohend sind die Schatten, welche aus dem Abgrund dieser Zeit auftauchen, um mich zu ängstigen. O mein Gott, könnte mir vergeben werden. Könnte ich von hinnen scheiden mit dem Bewußtsein, daß Gott mir vergeben werde, um meiner Reue und um seines Sohnes Jesu Christi willen, der für uns am Kreuz gestorben ist!“
Es entstand eine peinliche Pause, welche der Sohn durch die Worte abzukürzen versuchte:
„Allah vergibt allen Sündern um des Verdienstes des Propheten und der heiligen Kalifen willen.“
Der Alte schüttelte langsam den Kopf und antwortete:
„Ich verzichte auf das Verdienst der Propheten und der Kalifen. Sie waren Menschen; Christus aber ist wahrer Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.“
Der Sohn erschrak.
„Wie, mein Vater?“ fragte er. „Du bist unter den Gläubigen bekannt als ein Heiliger, und dennoch lästerst du den Propheten?“
„Mein Sohn, du sollst den Anfang des Geheimnisses hören: Ich bin kein Moslem, sondern ein Christ.“
„Allah il Allah!“ rief der andere erschrocken.
„Ja. Und auch du bist ein Christ.“
„Ich?“ fragte der Sohn, indem er unwillkürlich zurückfuhr.
„Ja. Du bist als Christ getauft, wenn auch nicht konfirmiert oder gefirmt. Niemals habe ich mit dir eine Zeremonie vornehmen lassen, durch welche du zu den Anhängern des Propheten übergetreten wärst. Ich habe dich den Glauben der Christen und auch den Glauben der Mohammedaner kennen gelehrt. Du betest die Suren des Koran; du absolvierst die vorgeschriebenen Werke und Waschungen; aber du betest auch die Gebote der Christen und ihre Lieder. Der Taufe nach bist du ein Christ; dem Leben und der Besinnung nach bist du weder Moslem, noch Christ, sondern ein frommer Mensch, welcher seinem Schöpfer dient, ohne zu fragen, ob er denselben Gott oder Allah nennen müsse.“
Der Sohn schwieg eine Weile, mehr überrascht als bestürzt. Dann fragte er:
„Aber, mein Vater, warum sagst du mir dies erst heute?“
„Ich glaubte die Zeit noch nicht gekommen. Jetzt aber tritt der Tod an mich heran, und so sollst du alles erfahren, was ich dir bisher verschwiegen habe.“
Der junge Mann bemerkte, daß das Reden seinen Vater außerordentlich anstrengte, darum bat er:
„Schone dich, mein Vater. Gott wird mir nicht das Herzeleid antun, dich so schnell von mir zu rufen.“