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„Wem der Engel des Todes naht, der hört seine Fittiche bereits von weitem rauschen. Dann soll er nicht zögern, seine Rechnung mit dem Leben zu schließen. Willst du nicht raten, mein Sohn, warum jener Knabe jetzt gerade so alt sein würde, wie du bist?“

„Nie vermöchte ich, dies zu erraten.“

„So will ich es dir mitteilen: Du bist es selbst.“

„Ich?“ rief der Sohn. „Wer – wer soll ich sein?“

„Du bist jener Knabe, der in Berlin getauft wurde und dabei den Namen Arthur de Sainte-Marie erhielt.“

„Allah akbar, Allah ist groß. Bei ihm ist nichts unmöglich, denn er ist allmächtig. Wie aber könnte ich jener Knabe sein?“

„Weil ich dein Vater bin.“

„Ja, das bist du. Du bist mir ein lieber und treuer Vater gewesen in jedem Augenblick meines Lebens.“

„Ich habe an dir sühnen wollen die Sünden meiner Jugend, denn wisse, ich bin jener Baron Alban de Sainte-Marie.“

Da schlug der Sohn die Hände zusammen und sagte:

„Welch ein Wort! Ist dies wahr, mein Vater?“

„Am Ende des Lebens treibt man keinen Scherz!“

„So bist du also nicht ein Araber vom Stamm der Schammar, sondern ein Franzose? Und jene Tochter eines Wirtes ist meine Mutter? Oh, mein Vater, schnell, schnell! Sage mir, ob sie noch lebt.“

Der Alte schüttelte langsam und traurig den Kopf und antwortete:

„Nein, sie lebt nicht mehr; sie ist tot.“

„Oh, warum hat Allah sie aus dem Leben gerufen! Wie glücklich würde ich sein, das Antlitz meiner Mutter sehen zu können!“

„Ja, du würdest glücklich sein. Sie war ein sanftes und gutes Weib. Aber desto größer ist meine Schuld, denn ich bin es gewesen, der – – – oh!“

Er stockte und fuhr sich mit den dürren Händen nach dem Kopf.

„Sprich weiter, mein Vater!“ bat der Sohn.

„Ich soll sprechen, und doch wie schwer fällt es mir! Oh, mein Sohn, o Arthur, denn so ist ja dein eigentlicher, richtiger Name; hier, hier ist es; hier ist der Ort, von dem die Bibel spricht: ‚Wo das Feuer brennt, welches nie verlischt, und wo der Wurm beißt, der niemals stirbt!‘“

Dabei deutete er mit den Händen nach seinem Kopf und seinem Herzen.

„Du und ihr alle hieltet mich für einen frommen Mann, für einen Liebling Gottes und des Propheten“, fuhr er fort. „Und doch war ich etwas ganz anderes. Ich war – – – ein Dieb, und ich war – – – ich war ein Mörder.“

Er hatte dieses letzte Bekenntnis wie mit Gewalt, mit aller Anstrengung herausgestoßen. Es wurde seinem Sohn fast angst dabei. Er ergriff die Hand des Vaters und sagte:

„Du irrst, du irrst! Mein Vater kann kein Dieb und kein Mörder sein!“

„Und doch bin ich es!“ erwiderte der Alte. „Und weißt du, wessen Mörder ich bin, Arthur?“

„Nein, wie sollte ich das wissen!“ sagte Arthur zaghaft.

„Ich habe diejenige gemordet, welche du so gern zu sehen wünschest, nämlich deine – – – oh, wie mir dies schwer fällt, auszusprechen! Ich bin der Mörder deiner – Mutter.“

„Allah kerihm! Meine Mutter willst du gemordet haben? Dein eigenes Weib?“

„Ja, Berta, meine einstige Geliebte, mein eigenes Weib!“ stöhnte der Kranke.

Arthur fuhr erschreckt empor.

„Sage, daß es aus Versehen geschehen ist, mein Vater!“ rief er.

„Oh, wenn ich das sagen könnte!“

„Mein Gott! So hast du es mit Absicht getan?“

„Ja, mit Absicht; aber es geschah im Zorn.“

Da drang ein Ruf der Erleichterung aus dem Mund des Sohnes.

„Allah sei Dank!“ rief er. „Im Zorn ist es geschehen. Der Prophet sagt, daß der Mensch nicht zu verantworten habe, was der Zorn getan hat.“

„Oh, was der Prophet sagt, das beruhigt mich nicht. Der starke, mächtige Gott der Christen ist es, der mit mir ins Gericht gehen wird!“

Da ergriff Arthur die Hand des Vaters und sagte:

„Hast du mich nicht gelehrt, daß dieser starke, mächtige Gott auch die Liebe, die Gnade und Barmherzigkeit ist? Hast du mir nicht gesagt, daß im Himmel der Christen über einen Sünder, welcher Buße tut, mehr Freude sei als über neunundneunzig Gerechte?“

„Ja, mein Sohn, das habe ich dir gesagt. Das war mein einziger Trost im Leben und ist nun auch mein einziger Trost im Sterben.“

„So fasse Mut, mein Vater! Vertraue mir an, was dich bedrückt. Vielleicht, daß dann die Last von deinem Herzen verschwindet.“

„Ja, ich will es tun. Ich habe dir bereits vorhin gesagt, daß ich beichten will. Vielleicht kannst du mir verzeihen, und dann will ich mit der Hoffnung von hinnen gehen, daß auch der ewige Richter meiner armen Seele gnädig ist.“

„So erzähle, mein Vater, erzähle!“

„Ich will erzählen, ich muß erzählen! Lege mir mein Haupt höher auf das Moos und komm nahe heran, daß du alles hörst. Mir graut vor den nächsten Augenblicken. Aber mein Sohn soll mein Richter sein. O Gott im Himmel, gib, daß er mich nicht gnadenlos in die Ewigkeit gehen läßt!“

Arthur erfüllte die Bitte des Vaters. Er legte ihm das Moos höher und rückte so nahe wie möglich zu ihm heran.

Die Dunkelheit der Nacht lagerte über der Ebene und auf den Bergen, aber es war die Dunkelheit des Südens, geschmückt mit Millionen Sternen, von den Zweigen der Bäume wehte eine erquickende Frische, mit welcher sich der eigentümliche Duft der Wüste mischte.

Es herrschte zwischen den beiden eine längere Stille. Dem Alten wurde es schwer, mit seinen Bekenntnissen zu beginnen, und dem Sohn war es eigentümlich bang. Er hatte in seinem Vater einen Heiligen verehrt und sollte nun erfahren, daß dieser nicht nur ein gewöhnlicher, sündhafter Mensch, sondern sogar ein schwerer Verbrecher sei.

Die beiden Lauscher hatten bisher jedes Wort vernommen. Als die jetzige Pause eintrat, stieß der Cousin Richemonte leise an und flüsterte:

„Hast du es gehört?“

„Ja“, flüsterte der alte Spion.

„Er ist kein Marabut, kein Mohammedaner, sondern ein Christ! Sogar ein Mörder!“

„Ich wußte das längst.“

„So kennst du diesen Marabut?“

„Oh, sehr gut! Aber ich hatte keine Ahnung davon, daß dieser fromme Hadschi Omanah ein alter Bekannter von mir sei!“

„Ein alter Bekannter? So kennst du ihn bereits von Frankreich her und er dich auch?“

„Oh, nur zu gut. Es ist möglich, daß er jetzt auch einiges von mir erzählt.“

„Das wäre interessant.“

„Für mich nicht.“

„Ah, warum nicht?“

„Du wirst wohl einiges von mir hören, was dir noch nicht bekannt sein dürfte. Ich hoffe, daß du alles so verschwiegen hältst, als ob es im Grab läge! Ich würde mich, falls das Gegenteil stattfände, ganz gewißlich sicher zu stellen wissen. Ich spaße mit solchen Dingen nicht!“

„Ah! Du willst mir drohen?“

„Nimm es, wie du willst! Übrigens werde ich deine Verschwiegenheit auch gehörig zu belohnen wissen. Vielleicht heute noch. Ich habe einen Plan, einen famosen Plan. Dieser Abend erweckt längst gestorbene Gedanken. Einst, als du noch ein Knabe warst, hatte ich Großes mit dir vor. Es glückte nicht; es kam nicht zur Ausführung. Vielleicht ist jetzt das möglich, was damals unmöglich war.“

„Du machst mich neugierig.“

„Warte noch! Horch, der Marabut will beginnen. Sei still!“

Der Marabut hatte jetzt tief, tief Atem geholt und stieß jenen leisen Husten aus, dem man des anhört, daß nun gesprochen werden soll. Er begann:

„Ich habe dir so viel von Napoleon, dem großen Kaiser, erzählt?“

„Ja“, antwortete Arthur. „Er wird sogar von den Arabern verehrt und von ihnen nicht anders als Sultan el Kebir, der große Sultan, genannt.“

„Ja, er war groß; aber er war auch ein Sterblicher.“

„Man sagt, er sei nicht gestorben, sondern er lebe noch.“

„Das ist eine müßige Sage. Sein Leib ist längst zu Erde geworden. Aber sein Geist lebt noch, und dieser ist es, welcher einst, wenn die Stunde gekommen ist, alle die, welche ihn stürzten, zu Boden werfen wird. Ich habe ihn nicht geliebt, ich habe einst sogar gegen ihn gehandelt; aber es hat mir keine Frucht gebracht; ich bin doch ein armer Flüchtling geworden.“