„Man hat dich aus dem Vaterland getrieben?“
„Man? Oh, wenn ich dieses sagen könnte. Aber ich bin selbst schuld daran, daß ich mich verbergen mußte. Höre also, mein Sohn!“
Er schloß für einen Augenblick die matten Lider, als wolle er in die ferne Erinnerung blicken, dann fuhr er fort:
„Ich war jung, reich und voller Hoffnung. Man nannte mich Baron Alban de Sainte-Marie. Ich hatte eine gute, liebevolle Mutter; aber ich besaß ein schwankes Herz, und leichtes Temperament und einen Charakter, der nicht Gelegenheit gehabt hatte, in der Schule des Lebens zu erstarken. Doch war ich überzeugt, daß ich der beste Mensch, der schönste junge Mann und der untadelhafteste Kavalier der Erde sei.“
Er holte Atem und fügte dann leiser hinzu:
„Und jetzt! Ein Gerippe mit einer Vergangenheit voller Selbsttäuschung, voller Fehler und Sünden.“
„Sprich nicht so, mein Vater“, bat der Sohn. „Erzähle lieber so, als ob du von einem vollständig Fremden redetest.“
„Ich will mir Mühe geben, dies fertig zu bringen. Sage mir, mein Sohn, ob du bereits einmal geliebt hast. Ich habe nie bemerkt, daß du eine der Töchter bekannter Stämme ausgezeichnet hättest, und ich habe dich auch nie gefragt.“
„Mein Herz hat nur dir gehört, mein Vater.“
„Du hast kein Mädchen gekannt, von welchem du gewünscht hättest, daß es dein Weib werde?“
„Niemals.“
„So wirst du mich schwerlich verstehen und begreifen. Die Liebe ist eine Macht, der nur wenige Menschen widerstehen können. Es geht über die Kräfte der meisten Sterblichen, mit kaltem Blut die Gefühle des Herzens zu beherrschen. Es gibt Schichten der Bevölkerung, in denen es Sitte und Gepflogenheit ist, mit diesen Gefühlen einen sündhaften Sport zu treiben. Es gibt da Tausende von jungen Männern, welche sich bemühen, hübsche und unbescholtene Mädchen zu betören. Sie lügen ihnen Liebe vor und verlassen sie, sobald sie erhört worden sind. Auch ich habe viele Mädchen gekannt, deren Liebe ich mir errang. Die letzte unter ihnen war Berta Marmont, deine Mutter.
Es lag nicht in meiner Absicht, sie zu meinem Weib zu machen. Ich spielte mit ihr wie der Verführer mit seinem ahnungslosen, vertrauenden Opfer spielt. Aber sie war rein und gut. Dies stachelte mich. Ich glaubte wirklich, sie heiß zu lieben, und beschloß, sie um jeden Preis zu besitzen. Meine Mutter war gut, aber stolz. Sie bemerkte meinen Umgang mit dem armen, bürgerlichen Mädchen und verbot mir denselben.“
„Du gehorchtest?“
„Mein Sohn, gegen eine solche Liebe vermag das Gebot der besten Mutter nichts. Ich beschloß, Berta im geheimen zu meinem Weib zu machen, aber es trat ein Ereignis dazwischen, welches mit einem einzigen Schlag alle meine Gefühle und Sinne gefangen nahm. Es kam eine entfernte Verwandte zu uns auf Besuch; sie brachte eine Tochter mit, ein Mädchen von so unvergleichlicher Schönheit, daß sofort die arme Berta vergessen war.“
„Wie hieß diese andere?“
„Margot Richemonte. Ich war unter ihrem Zauber gefangen, daß ich vom ersten Augenblick an nur danach trachtete, sie zu besitzen. Sie war stolz, edel und rein wie eine Rose, welche noch keines Menschen Hand berührt hat. Aber schon nach kürzester Zeit erfuhr ich, daß meine Liebe hoffnungslos sei. Sie war bereits verlobt mit einem deutschen Offizier, welcher mit nach Frankreich gekommen war, um den Kaiser, um den Sultan el Kebir, zu besiegen.“
„Einen Feind des Vaterlandes liebte sie?“
„Ja, aber nicht einen Feind von uns, denn deine Mutter war von Geburt auch eine Deutsche, und ich hatte nicht gelernt, die Deutschen zu hassen. Ich wollte es, aber ich brachte es nicht fertig, denn er war ein Mann, welchen man achten und lieben mußte.“
„Wie hieß er?“
„Hugo von Königsau.“
„Königsau? Das ist ja abermals der Name jenes Lieutenants, welcher überfallen werden soll!“
„Ja. Er kam zu uns, um seine Verlobte zu besuchen. An demselben Tag kam auch der Kaiser nach Jeannette in Quartier. Er sah Margot und liebte sie. Er wollte sie an sich fesseln, sie aber entfloh mit ihrem Verlobten.“
„So war sie wirklich stolz und rein, wie du sagtest.“
„Sie hatten einen Bruder, welcher ganz das Gegenteil von ihr war. Er jagte ihr nach, um sie dem Kaiser zurückzubringen, aber es gelang ihm nicht; die Flüchtigen wurden zwar entdeckt, aber der Kaiser hatte inzwischen die Schlacht von Waterloo verloren, mußte fliehen und wurde dann von den Engländern nach St. Helena geschafft.
Königsau war schwer verwundet worden; aber der fürchterliche Hieb, den er über den Kopf erhalten hatte, heilte zu. Er zog nach Berlin, und Margot wurde seine Frau.
Er mußte den Abschied nehmen. Der Hieb hatte das Gehirn verletzt und eine eigentümliche Gedächtnisschwäche war die Folge. Er konnte sich nicht auf das besinnen, was vor seiner Verwundung geschehen war. Er hatte übrigens dem Vaterland wichtige Dienste geleistet und wurde dafür so belohnt, daß er keine Sorgen zu haben brauchte.“
„Was aber tatest du bei der großen Liebe, welche du zu Margot gehegt hattest?“
„Ich war jung und oberflächlich. Vorher hätte ich gedacht, sterben zu müssen, wenn ich gezwungen sein solle, von dem schönen Mädchen zu lassen. Nun es aber in Wirklichkeit so gekommen war, wurde mir es nicht sehr schwer, mich mit der Tatsache zu befreunden. Ich kehrte zu der früheren Geliebten zurück, zu Berta Marmont.
Ich war störrisch geworden, und so schwor ich mir, von dieser nicht zu lassen. Mutter wiederholte umsonst ihren früheren Befehl. Ich hatte mich in eine wahre Lust des Widerstandes hineingearbeitet und ließ mich nicht besiegen.“
„Da gab sie nach?“
„Nein. Sie sorgte dafür, daß Berta plötzlich verschwand. Darob ergrimmte ich so, daß ich Gehorsam und Dankbarkeit vergaß. Ich sagte mich von der Mutter los und ging in die weite Welt.“
„Allah il Allah! Allein? Ohne die Geliebte?“
„Ohne sie. Aber ich hatte ihre Spur entdeckt.“
„Sie war arm. Und du jetzt auch, mein Vater!“
Der Kranke schloß die Augen, als ob der Strahl der Sterne ihn blende. Erst nach einer Weile öffnete er sie wieder und antwortete:
„Nein, mein Sohn. Ich war reich, denn ich war – ein Dieb geworden.“
Der Sohn legte rasch die Hand auf den Arm des Vaters und fragte:
„Du hast fremdes Eigentum an dich genommen?“
„Ja.“
„Wessen?“
„Der Mutter.“
„Allah kerihm! Ich bin erleichtert. Das Eigentum der Mutter war ja auch das deinige. Du hast keinen Diebstahl begangen, mein Vater.“
„Und doch. Das Besitztum der Mutter war noch nicht mein Eigentum. Ich hatte alles Geld, was vorhanden war, mitgenommen; ich war in Paris gewesen, um auf Rechnung der Mutter große Summen aufzunehmen, und ich nahm sogar den kostbaren Familienschmuck mit, in welchem der größte Reichtum unseres Hauses bestand. Ich ging – als ein Dieb.“
„Was tat deine Mutter?“
„Sie tat nichts. Sie ließ mich nicht verfolgen. Sie ließ mir alles, was ich ihr geraubt hatte. Aber sie ließ mir, nachdem sie erfahren hatte, wo ich mich befand, sagen, daß ich nicht mehr ihr Sohn sei und niemals wieder ihr Angesicht sehen werde.“
„Mein armer, armer Vater. Hat dieser Fluch sich erfüllt?“
„Ja, mein Sohn.“
Er sagte diese drei Worte langsam und stockend. Man hörte es seinem Ton an, daß es wirklich ein Fluch für ihn gewesen war.
„Hast du nie um Barmherzigkeit gefleht?“
„Ich habe es versucht.“
„Aber ohne Erfolg?“
„Ich wurde niemals vorgelassen. Ich brachte ihr den größten Teil dessen wieder, was ich ihr genommen hatte; aber ich wurde dennoch abgewiesen. Sie wollte mich nicht sehen und wollte nichts wieder haben, obgleich ich mich von Berta getrennt hatte.“