„Ja, mein guter, mein lieber Vater!“
„Richte mich auf! Lehne – meinen Rücken höher – an die Hütte, damit ich – noch einmal den Sternenhorizont – überschaue.“
Unter strömenden Tränen tat Arthur ihm den Willen. Sodann kniete er nieder und faltete die Hände. Er unterdrückte mit aller Anstrengung das Schluchzen und betete mit lauter, zitternder Stimme:
„Bedeckt mit deinem Segen
Eil' ich der Ruh' entgegen;
dein Name sei gepreist.
Mein Leben und mein Ende
Ist dein. In deine Hände
Befehl ich, Vater, meinen Geist!“
Die Worte klangen laut zu den Wipfeln der Bäume empor und von der Bergeshöhe hinab. Es war ein christliches Sterbegebet inmitten eines durchaus mohammedanischen Landes.
„A – – – men!“ hauchte es von der Mauer herüber.
Dann war es still. Der Beter regte sich nicht. Arthur wartete, daß der Vater ihn rufen, noch ein Wort, ein einziges Wort sagen solle – vergebens! Da endlich erhob er sich und trat zu ihm. Er bückte sich zu ihm nieder.
„Vater, lieber Vater!“
Keine Antwort.
„Schläfst du, Vater?“
Auch jetzt erhielt er keine Antwort. Da nahm er die Hände des Entschlafenen leise und behutsam in die seinigen. Sie hatten noch eine Spur von Lebenswärme, wurden aber bald völlig kalt.
„Gott, mein Gott, ist er wirklich tot, tot, tot?“
Die beiden Lauscher hörten das schnelle Rauschen eines Gewandes. Der Sohn fühlte nach dem Herzen des Vaters, um sich zu überzeugen, ob der eingetretene Schlummer wirklich der ewige sei.
„Allah! Allbarmherziger! Er ist gestorben! Sei ihm gnädig da oben und auch mir hier in meiner Einsamkeit.“
Das wurde unter lautem Schluchzen gesprochen. Dann warf sich der Lebende neben dem Toten nieder. Es herrschte tiefe Stille rings umher. Nur in den Zweigen war ein leises, leises Rauschen zu hören, als ob eine Seele die Schwingen breite, um sich zum Flug nach der ewigen Heimat zu erheben.
Richemonte stieß jetzt seinen Gefährten an.
„Komm!“ flüsterte er ihm zu.
„Wohin?“
„Immer hinter mir her. Aber leise, damit er uns ja nicht hört.“
Sie schlichen sich von der Hütte fort und nach dem Rand der Lichtung hin. Dort angekommen, faßte der Kapitän den anderen bei der Hand und zog ihn ziemlich tief in das Dunkel des Waldes hinein.
„So!“ sagte er, endlich stehen bleibend. „Jetzt sind wir so weit entfernt, daß er nichts vernehmen kann. So lange Zeit ganz und gar lautlos bleiben zu müssen, ist wirklich eine fürchterliche Anstrengung. Ich hätte es nicht fünf Minuten länger ausgehalten.“
„Ich auch nicht.“
„Hast du alles gehört?“
„Jedes Wort.“
„Was sagst du dazu?“
„Wer hätte das gedacht! Alle Teufel, wer hätte das gedacht!“
„Hm! Als ich hörte, daß der Kerl beichten wolle, ahnte ich einen ziemlichen Teil dessen, war wir dann wirklich zu hören bekamen.“
„Und es ist alles wahr? Der Kaiser war wirklich in deine Schwester verliebt?“
„Rasend!“
„Sie entfloh?“
„Leider. Mit diesem verdammten Königsau.“
„Welche eine kolossale Dummheit von ihr! Du aber verfolgtest sie?“
„Natürlich.“
„Doch aber nicht auf den Befehl Napoleons?“
„Auf seinen ausdrücklichen Befehl. Hätte er die Schlacht bei Waterloo nicht verloren, so wäre er mit einem Schlag Meister der ganzen Situation und Herr Europas geworden. Margot hätte die Stelle einer Maintenon oder Pompadour eingenommen, und ich – alle tausend Teufel, was für Chancen hätten sich mir geboten! Was wäre ich heute?“
„Mußtest du denn wirklich aus der Armee treten?“
„Das geht dich ganz und gar nichts an. Glaube es oder glaube es nicht; mir ist dies egal.“
„Und du hattest dich wirklich nach Deutschland, nach Berlin gewagt?“
„Natürlich! In Frankreich war ja meines Bleibens nicht.“
„Was wolltest du?“
„Hm! Ich wollte mit diesem guten Königsau einige Worte sprechen; aber der Satan legte sich mir immer in den Weg, so daß ich nicht so an ihn kommen konnte, wie ich wollte. Da entdeckte ich diesen dummen Sainte-Marie mit seiner noch einfältigeren Dulcinea. Das war mir natürlich im höchsten Grad willkommen.“
„Inwiefern? Seines Geldes wegen?“
„Auch! Das wäre später mein geworden. Zunächst hatte ich es natürlich auf seinen Buben gemünzt.“
„Auf den Knaben? Das verstehe ich nicht. Das Geld und der Schmuck wären mir ja tausendmal lieber und willkommener gewesen.“
„Da sieht man wieder einmal, was für ein Schwachkopf du bist.“
„Pah! Ich sehe keine sehr große Geistesstärke darin, einen Menschen mit hunderttausenden laufen zu lassen und dafür sich mit einem Säugling zu begnügen, der einem nur Arbeit und Sorge bringen kann.“
„Hm! Wie du es verstehst.“
„War diese Berta denn gleich bereit, mit dir zu gehen?“
„Ich brauchte meine Überredungsgabe allerdings nicht sehr anzustrengen. Sie hatte ihren Mann hassen gelernt und strebte danach, von ihm fortzukommen, um ihr Kind aus seiner Nähe zu bringen. Es war dann allerdings für mich ein harter Schlag, als ich ihre Leiche fand, die Leiche ganz allein, ohne das Kind.“
„Aber, welche Absichten hattest du denn eigentlich mit dem letzteren?“
„Das errätst du nicht?“
„Wie sollte ich!“
„Ja“, lachte der Kapitän leise vor sich hin. „Dieser Richemonte ist ein Kerl, dessen Kombinationen nicht so leicht ein anderer folgen kann. Wer war denn der Vater des Kindes, he?“
„Nun, der Baron de Sainte-Marie.“
„Schön! Wer war also der Junge?“
„Hm!“ brummte der andere ziemlich verblüfft. „Sein Sohn natürlich.“
„Sehr geistreich geantwortet. Weißt du, was ein Fideikommiß ist?“
„Ich denke.“
„Nun?“
„Eine Besitzung, welche ungeschmälert vom Vater auf den Sohn oder überhaupt auf den Erben übergeht, ohne verkauft werden zu können.“
„Ja. In Frankreich darf sogar auch nicht zugunsten eines anderen darüber verfügt werden, im Falle der eigentliche Erbe mißliebig wird. Verstehst du mich nun?“
„Noch nicht.“
„So beklage ich die Kürze deines Verstandesfadens. Der Junge war unbedingt der Erbe seines Vaters.“
„Ah! So ist er es ja auch jetzt noch.“
„Sehr richtig.“
„Dieser wilde Beduine – der Erbe der sämtlichen Güter. Donnerwetter! Und so ein zivilisierter Kerl, wie unsereiner ist, hat oft weder zu trinken, noch zu beißen.“
„Du brauchst es ja nur zu ändern.“
„Ich? Du bist wohl närrisch, Alter! Wie sollte ich es ändern können?“
„Oh, sehr leicht, sehr leicht sogar.“
„So erkläre es mir. Ich bin zu einer solchen Änderung auf der Stelle und herzlich gern bereit. Das kannst du mir wohl glauben.“
„Ein Schuß, ein Stich ist das Ganze, was nötig sein würde.“
„Du sprichst abermals in Rätseln.“
„Und für dich wird ein jeder Plan, ein jeder geistreicher Gedanke in Ewigkeit ein Rätsel bleiben. Du fragtest vorhin, was ich mit dem Sprößlinge dieses Sainte-Marie und diese Berta wollte –“
„Ja.“
„Nun, hast du dich vielleicht auch gefragt, was ich damals mit dir wollte?“
„Nein. Damals war ich zu jung, um mir eine solche Frage vorzulegen. Ich glaube, ich habe damals kaum die Windeln verlassen gehabt.“
„Du warst bereits ein zweijähriger Bub.“
„Aber doch noch immer zu jung zu so einer ungewöhnlichen Frage.“
„So frage ich dich jetzt.“
„Gib mir lieber sogleich die Antwort.“
„Bei deinem Schwachkopf bleibt mir allerdings gar nichts anderes übrig. So höre also! Du hattest damals bereits weder Vater, noch Mutter mehr.“