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Goldmund: »Das ist leicht zu verstehen. Du sprichst aber nicht nur von Unterschieden der Merkmale, du sprichst oft auch von Unterschieden des Schicksals, der Bestimmung. Warum zum Beispiel solltest du eine andere Bestimmung haben als ich? Du bist wie ich ein Christ, du bist wie ich zum Klosterleben entschlossen, du bist wie ich ein Kind des guten Vaters im Himmel. Unser beider Ziel ist dasselbe: die ewige Seligkeit. Unsere Bestimmung ist dieselbe: die Rückkehr zu Gott.«

Narziß: »Sehr gut. Im Lehrbuch der Dogmatik ist freilich ein Mensch genau wie der andere, im Leben aber nicht. Mir scheint: der Lieblingsjünger des Erlösers, an dessen Brust er ruhte, und jener andere Jünger, der ihn verriet – die haben doch wohl beide nicht dieselbe Bestimmung gehabt?«

Goldmund: »Du bist ein Sophist, Narziß! Auf diesem Wege kommen wir einander nicht näher.«

Narziß: »Wir kommen auf keinem Wege einander näher.«

Goldmund: »Sprich nicht so!«

Narziß: »Es ist mein Ernst. Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näherzukommen, sowenig wie Sonne und Mond zueinander kommen oder Meer und Land. Wir zwei, lieber Freund, sind Sonne und Mond, sind Meer und Land. Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.«

Betroffen hielt Goldmund den Kopf gesenkt, sein Gesicht war traurig geworden.

Endlich sagte er: »Ist es darum, daß du meine Gedanken so oft nicht ernst nimmst?«

Narziß zauderte ein wenig mit der Antwort. Dann sagte er mit heller, harter Stimme: »Es ist darum. Du mußt dich daran gewöhnen, lieber Goldmund, daß ich nur dich selbst ernst nehme. Glaube mir, ich nehme jeden Ton deiner Stimme, jede deiner Gebärden, jedes Lächeln von dir ernst. Aber deine Gedanken, die nehme ich weniger ernst. Ich nehme an dir das ernst, was ich als wesentlich und notwendig erfinde. Warum willst du denn gerade deinen Gedanken besondere Beachtung zugewendet sehen, da du so viele andere Gaben hast?«

Goldmund lächelte bitter: »Ich sagte es ja, du hast mich immer bloß für ein Kind gehalten!«

Narziß blieb fest. »Einen Teil deiner Gedanken halte ich für Kindergedanken. Erinnere dich, wir sprachen vorher davon, daß ein kluges Kind durchaus nicht dümmer zu sein brauche als ein Gelehrter. Wenn aber das Kind über Wissenschaft mitreden will, wird der Gelehrte es eben nicht ernst nehmen.«

Heftig rief Goldmund: »Auch wenn wir nicht über Wissenschaft reden, belächelst du mich! Du tust zum Beispiel immer so, als sei meine ganze Frömmigkeit, meine Bemühungen um Fortschritte im Lernen, mein Wunsch nach dem Mönchtum bloß Kinderei!«

Ernst blickte Narziß ihn an: »Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts anderes, als daß du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch – einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seiest mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.«

Hatte sich auch Goldmund nach diesem Gespräch betroffen und sogar verletzt zurückgezogen, schon nach wenigen Tagen zeigte er dennoch selbst Verlangen nach seiner Fortsetzung. Diesmal nun gelang es Narziß, ihm ein Bild von den Unterschieden ihrer Naturen zu geben, das er besser annehmen konnte.

Narziß hatte sich warm geredet, er fühlte, daß Goldmund heute seine Worte offener und williger in sich einließe, daß er Macht über ihn habe. Er ließ sich durch den Erfolg verführen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte, er ließ sich von seinen eigenen Worten hinreißen.

»Schau«, sagte er, »es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewußtsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Daß du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann. Bei dir, Goldmund, sind Geist und Natur, Bewußtsein und Traumwelt sehr weit auseinander. Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst. – Genug davon! Im Wachsein, wie gesagt, bin ich stärker als du, hier bin ich dir überlegen und kann dir darum nützen. In allem andern, Lieber, bist du ja mir überlegen – vielmehr du wirst es sein, sobald du dich selbst gefunden hast.«

Goldmund hatte staunend zugehört, aber bei dem Wort »Du hast deine Kindheit vergessen« zuckte er auf wie von einem Pfeil getroffen, ohne daß Narziß es beachtete, der nach seiner Art während des Sprechens die Augen oft lange geschlossen hielt oder vor sich hinstarrte, als fände er die Worte so besser. Er sah nicht, wie Goldmunds Gesicht plötzlich zuckte und zu verwelken begann.

»Überlegen – ich dir!« stammelte Goldmund, nur um etwas zu sagen, er war wie von einer Starre befallen.

»Gewiß«, sprach Narziß weiter. »Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben …«

Mit weit offenen Augen hatte Goldmund zugehört, wie Narziß in einer gewissen rednerischen Selbstberauschung sprach. Mehrere seiner Worte hatten ihn getroffen wie Schwerter; bei den letzten Worten wurde er blaß und schloß die Augen, und als Narziß es merkte und erschrocken fragte, sagte der tief Erbleichte mit erloschener Stimme: »Es ist mir einmal passiert, daß ich vor dir zusammenbrach und weinen mußte – du erinnerst dich. Es darf nicht wieder passieren, ich würde es mir nie verzeihen – und auch dir nicht! Geh jetzt schnell fort und laß mich allein, du hast mir furchtbare Worte gesagt.«

Narziß war sehr betreten. Die Worte hatten ihn mitgerissen, er hatte das Gefühl gehabt, besser als sonst zu sprechen. Nun sah er mit Bestürzung, daß irgendeines dieser Worte den Freund tief erschüttert habe, daß er irgendwo ins Lebendige getroffen habe. Es fiel ihm schwer, ihn in diesem Augenblick allein zu lassen, er zögerte sekundenlang, Goldmunds Stirnrunzeln mahnte ihn, und verwirrt lief er davon, um dem Freunde das Alleinsein zu gönnen, dessen er bedurfte.

Diesmal löste die Überspannung in Goldmunds Seele sich nicht in Tränen auf. Mit einem Gefühl tiefsten und hoffnungslosen Verwundetseins, als habe der Freund ihm plötzlich ein Messer mitten in die Brust gestoßen, blieb er stehen, schwer atmend, mit einem tödlich zusammengepreßten Herzen, wachsbleich im Gesicht, mit abgestorbenen Händen. Es war wieder das Elend von damals, nur um einige Grade verstärkt, es war wieder das Würgen im Innern, das Gefühl, etwas Furchtbarem ms Auge sehen zu müssen, etwas schlechterdings Unerträglichem. Aber kein erlösendes Schluchzen half diesmal das Elend überstehen. Heilige Mutter Gottes, was war denn nur? War denn etwas geschehen? Hatte man ihn gemordet? Hatte er getötet? Was war da Furchtbares gesagt worden?

Keuchend stieß er den Atem von sich, wie ein Vergifteter war er bis zum Zerreißen erfüllt von dem Gefühl, sich von etwas Tödlichem befreien zu müssen, das tief in ihm innen stecke. Mit Bewegungen wie ein Schwimmender stürzte er aus der Stube, floh unbewußt in die stillsten, menschenleersten Bezirke des Klosters, durch Gänge, über Treppen, und ins Freie, an die Luft. Er war in die innerste Zuflucht des Klosters, in den Kreuzgang geraten, über den paar grünen Beeten stand klar der sonnige Himmel, durch die kühle steinerne Kellerluft zog in süßen zögernden Fäden der Duft von Rosen.