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Einen Augenblick zog sein Herz sich frierend zusammen, schrecklich allein stand er da in der Nacht. Hinter ihm lag das Kloster, eine Scheinheimat nur, aber doch eine geliebte und langgewohnte.

Zugleich aber fühlte er das andere: daß jetzt Narziß nicht mehr sein mahnender und besserwissender Führer und Wecker war. Heute hatte er, so fühlte er, ein Land betreten, in dem er die Wege allein fand, in dem kein Narziß ihn mehr führen konnte. Er war froh, daß ihm dies bewußt wurde; es war ihm drückend und beschämend gewesen, so auf die Zeit seiner Abhängigkeit zurückzublicken. Jetzt war er sehend und war kein Kind und Schüler mehr. Es war gut, das zu wissen. Aber dennoch – wie schwer war es, Abschied zu nehmen! Ihn dort drüben in der Kirche knien zu wissen, ihm nichts geben, nichrhelfen, nichts sein zu können! Und nun für lange Zeit, vielleicht für immer, von ihm getrennt zu sein, nichts von ihm zu wissen, seine Stimme nicht mehr zu hören, sein edles Auge nicht mehr zu sehen!

Er riß sich los und folgte dem steinigen Sträßchen. Als er einhundert Schritte von den Klostermauern weg war, blieb er stehen, schöpfte Atem und stieß, so gut er konnte, den Eulenschrei aus. Ein gleicher Eulenschrei antwortete, bachabwärts, in der Ferne.

»Wie die Tiere schreien wir nacheinander«, mußte er denken und erinnerte sich der Liebesstunde am Nachmittag; erst jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, daß zwischen ihm und Lise erst ganz zuletzt, am Ende der Liebkosungen, Worte gewechselt worden waren, und auch da nur wenige und belanglose! Wie lange Gespräche hatte er mit Narziß gehabt! Nun aber, so schien es, war er in eine Welt eingetreten, wo man nicht sprach, wo man einander mit Eulenrufen lockte, wo Worte keine Bedeutung hatten. Er war damit einverstanden, er hatte heut kein Bedürfnis mehr nach Worten oder Gedanken, nur nach Lise, nur nach diesem wortlosen, blinden, stummen Fühlen und Wühlen, nach diesem seufzenden Hinschmelzen.

Lise war da, schon kam sie ihm aus dem Walde entgegen. Er streckte die Hände aus, um sie zu fühlen, umfaßte mit zärtlich tastenden Händen ihren Kopf, ihr Haar, ihren Hals und Nacken, ihren schlanken Leib und die festen Hüften. Einen Arm um sie geschlungen, ging er mit ihr weiter, ohne zu sprechen, ohne zu fragen: wohin? Sicher ging sie in den nächtlichen Wald, er hatte Mühe mitzukommen, wie ein Fuchs oder Marder schien sie mit Nachtaugen zu sehen, ging ohne anzustoßen, ohne zu stolpern. Er ließ sich führen, in die Nacht, in den Wald, in das blinde geheimnisvolle Land ohne Worte, ohne Gedanken. Er dachte nicht mehr, auch nicht an das verlassene Kloster, auch nicht an Narziß. Stumm liefen sie eine finstere Waldstrecke, zuweilen auf weichem, polstrigem Moos, zuweilen auf harten Wurzelrippen, zuweilen war zwischen spärlichen hohen Baumkronen lichter Himmel über ihnen, zuweilen war es völlig finster; Sträucher schlugen ihm ins Gesicht, Brombeerranken hielten ihn am Gewände fest. Überall wußte sie Bescheid und fand sich durch, selten blieb sie stehen, selten zögerte sie. Nach einer langen Weile kamen sie zwischen einzelnen, weit voneinander stehenden Kiefern an, weithin lag der blasse Nachthimmel offen, der Wald war zu Ende, ein Wiesental nahm sie auf, süß duftete es nach Heu. Sie wateten durch einen kleinen, lautlos rinnenden Bach, hier im Freien, war es noch stiller als im Walde: kein rauschendes Gesträuch, kein aufschnellendes Nachtgetier, kein Knacken von Dürrholz mehr.

Bei einem großen Heuhaufen machte Lise halt.

»Hier bleiben wir«, sagte sie.

Sie setzten sich beide ins Heu, erst einmal aufatmend und die Rast genießend, beide etwas ermüdet. Sie streckten sich, hörten der Stille zu, fühlten ihre Stirnen trocknen und ihre Gesichter allmählich kühl werden. Goldmund kauerte in angenehmer Müdigkeit, zog spielend die Knie an und streckte sie wieder, sog Nacht und Heuduft in langen Atemzügen ein und dachte weder zurück noch an die Zukunft. Langsam nur ließ er sich vom Duft und der Wärme seiner Geliebten anziehen und bezaubern, erwiderte je und je das Streicheln ihrer Hände und fühlte beglückt, wie sie neben ihm allmählich zu erglühen begann und sich näher und näher zu ihm schob. Nein, hier waren weder Worte noch Gedanken vonnöten. Deutlich fühlte er alles, was wichtig und schön war, die Jugendkraft und einfache gesunde Schönheit des Frauenleibes, sein Warmwerden und Begehren; deutlich auch fühlte er, daß sie diesmal anders geliebt zu werden wünsche als beim erstenmal, daß sie diesmal ihn nicht verführen und belehren, sondern sein Angreifen und seine Begierde erwarten wolle. Still ließ er die Ströme durch sich hingehen, glücklich empfand er das lautlose stillwachsende Feuer, das in ihnen beiden lebendig war und das ihre kleine Lagerstätte zur atmenden und glühenden Mitte der ganzen schweigenden Nacht machte.

Als er sich über Lises Gesicht gebeugt hatte und im Dunkeln ihre Lippen zu küssen begann, sah er plötzlich ihre Augen und die Stirn in einem sanften Licht erschimmern, staunend blickte er hin und sah zu, wie der Schein aufdämmerte und schnell sich verstärkte. Dann begriff er und wandte sich um: überm Rand der schwarzen langgestreckten Wälder kam der Mond herauf. Wunderbar sah er das weiße sanfte Licht über ihre Stirn und Wangen fließen, über den runden lichten Hals, und sagte leise und entzückt: »Wie schön du bist!« Sie lächelte wie beschenkt, er richtete sie halb auf, zog ihr sanft das Gewand vom Halse weg, half ihr heraus und schälte sie, bis Schultern und Brust nackt im kühlen Mondlicht schimmerten. Mit Augen und Lippen folgte er hingenommen den zarten Schatten, schauend und küssend; wie bezaubert hielt sie still, mit gesenktem Blick und einem feierlichen Ausdruck, als werde ihre Schönheit in diesem Augenblick zum erstenmal, auch ihr selbst, entdeckt und offenbar.

Siebentes Kapitel

Während es über den Feldern kühl wurde und von Stunde zu Stunde der Mond höher rückte, ruhten die Liebenden auf ihrem sanft beschienenen Lager, in ihre Spiele verloren, gemeinsam entschlummernd und schlafend, im Erwachen sich neu zueinander wendend und einander entzündend, aufs neue ineinander verstrickt, aufs neue entschlafend. Nach der letzten Umarmung lagen sie erschöpft, Lise hatte sich tief ins Heu gepreßt und atmete schmerzlich, Goldmund lag auf dem Rücken, regungslos, und starrte lang in den bleichen Mondhimmel; in beiden stieg die große Traurigkeit empor, der sie in den Schlaf entflohen. Sie schliefen tief und verzweifelt, schliefen gierig, als sei es zum letztenmal, als seien sie zu ewigem Wachsein verurteilt und müßten in diesen Stunden vorher noch allen Schlaf der Welt in sich eintrinken.

Beim Erwachen sah Goldmund Lise mit ihren schwarzen Haaren beschäftigt. Er sah ihr eine Weile zu, zerstreut und erst halb wach geworden.

»Du bist schon wach?« sagte er schließlich. Sie wandte sich mit einem Ruck ihm zu, wie erschrocken.

»Ich muß jetzt fortgehen«, sagte sie, etwas bedrückt und verlegen. »Ich wollte dich nicht wecken.«

»Nun bin ich ja wach. Müssen wir denn schon weiter? Wir! sind doch heimatlos.«

»Ich, ja«, sagte Lise. »Du gehörst doch ins Kloster.«

»Ich gehöre nicht mehr ins Kloster, ich bin wie du, ich bin ganz allein und habe kein Ziel. Ich werde mit dir gehen, natürlich.«

Sie blickte zur Seite. »Goldmund, du kannst nicht mit mir kommen. Ich muß jetzt zu meinem Mann; er wird mich schlagen, weil ich die Nacht ausgeblieben bin. Ich sage, ich hätte mich verlaufen. Aber natürlich glaubt er es nicht.«