Auch mit dem Latein ging es nicht übel. Sie gingen das bisher Geschriebene gemeinsam durch, und Goldmund berichtigte nicht nur die vielen ungenauen und mangelnden Vokabeln, sondern baute da und dort auch des Ritters kurze unbeholfene Sätze zu hübschen lateinischen Perioden um, mit soliden Konstruktionen und einer sauberen consecutio temporum. Dem Ritter machte es viel Vergnügen, er war mit Lob nicht sparsam. Jeden Tag brachten sie mindestens zwei Stunden mit dieser Arbeit hin.
In der Burg – sie war ein etwas befestigter geräumiger Bauernhof – fand Goldmund manchen Zeitvertreib. Er beteiligte sich an der Jagd und lernte mit der Armbrust zu schießen beim Jäger Hinrich, befreundete sich mit den Hunden und konnte reiten, soviel er wollte. Selten sah man ihn allein; entweder war es ein Hund oder Gaul, mit dem er sprach, oder Hinrich, oder die Beschließerin Lea, eine dicke Alte mit einer Männerstimme und vieler Geneigtheit zu Spaß und Gelächter, oder der Hundejunge, oder ein Schäfer. Mit der Frau des Müllers, in nächster Nachbarschaft, wäre es leicht gewesen, eine Liebschaft zu pflegen, er hielt sich aber zurück und spielte den Unerfahrenen.
Von den beiden Töchtern des Ritters war er sehr entzückt. Die Jüngere war die schönere, aber so spröde, daß sie kaum ein Wort mit Goldmund sprach. Er trat beiden mit der größten Rücksicht und Höflichkeit gegenüber, aber beide empfanden seine Nähe wie eine unaufhörliche Werbung. Die Junge verschloß sich ganz, aus Schüchternheit trotzig. Die Ältere, Lydia, fand gegen ihn einen besonderen Ton, indem sie ihn halb ehrfürchtig, halb spöttisch wie ein Wundertier von einem Gelehrten behandelte, ihm viele neugierige Fragen stellte, sich nach dem Leben im Kloster erkundigte, aber stets wieder etwas Spöttisches und damenhaft Überlegenes gegen ihn herauskehrte. Er ging auf alles ein, er behandelte Lydia wie eine Dame, Julie wie eine kleine Nonne, und wenn es ihm gelang, durch sein Gespräch die Mädchen länger als sonst nach dem Abendessen am Tische festzuhalten, oder wenn in Hof oder Garten Lydia ihn einmal anredete und sich eine Neckerei erlaubte, war er zufrieden und fühlte einen Fortschritt.
Lange hielt sich in diesem Herbst das Laub an den hohen Eschen im Hof, lange gab es im Garten noch Astern und Rosen. Da kam eines Tages Besuch, ein Gutsnachbar mit seiner Frau und einem Reitknecht kamen geritten, der milde Tag hatte sie zu einem ungewohnt großen Ausflug verlockt, nun waren sie da und baten um Nachtquartier. Man empfing sie sehr artig, und alsbald wurde Goldmunds Bett aus dem Gastzimmer in die Schreibstube verbracht und das Zimmer für die Besuche hergerichtet, wurden einige Hühner geschlachtet und nach der Mühle um Fische geschickt. Goldmund nahm mit Vergnügen an der festlichen Aufregung teil und spürte sofort, wie die fremde Dame auf ihn aufmerksam war. Und kaum hatte er, an ihrer Stimme und an etwas in ihrem Blick, ihr Gefallen und Begehren bemerkt, so bemerkte er auch, mit vermehrter Spannung, wie Lydia sich veränderte, wie sie still und verschlossen wurde und ihn und die Dame zu beobachten begann. Als beim festlichen Nachtmahl der Fuß der Dame unterm Tisch mit Goldmunds Fuß zu spielen anfing, entzückte ihn nicht dieses Spiel allein, sondern noch viel mehr die finstere und verschwiegene Spannung, mit welcher Lydia das Spiel aus neugierigen und lodernden Augen beobachtete. Schließlich ließ er absichtlich ein Messer zu Boden fallen, bückte sich danach unter den Tisch und berührte den Fuß und das Bein der Dame mit liebkosender Hand, sah Lydia blaß werden und auf die Lippen beißen und fuhr fort Klosteranekdoten zu erzählen, indem er fühlte, wie die Fremde weniger den Geschichten als seiner werbenden Stimme innig zuhörte. Auch die andern hörten ihm zu, sein Patron mit Wohlwollen, der Gast mit unbewegtem Gesicht, aber auch er von dem Feuer berührt, das in dem Jüngling brannte. Niemals hatte Lydia ihn so sprechen hören, er war aufgeblüht, Lust schwang in der Luft, seine Augen blitzten, in seiner Stimme sang Glück, flehte Liebe. Die drei Frauen fühlten es, jede anders, die kleine Julie mit heftiger Gegenwehr und Ablehnung, die Frau des Ritters mit strahlender Genugtuung, Lydia mit einem schmerzlichen Wogen des Herzens, das aus inniger Sehnsucht, leisem Sichwehren und heftigster Eifersucht gemischt war und das ihr Gesicht schmal und ihre Augen brennen machte. Alle diese Wogen fühlte Goldmund, wie geheime Antworten auf seine Werbungen kamen sie zu ihm zurückgeflutet, wie die Vögel umflogen ihn die Liebesgedanken, die sich hingebenden, die sich widersetzenden, die miteinander kämpfenden.
Nach der Mahlzeit zog Julie sich zurück, es war längst Nacht, mit ihrer Kerze im irdenen Leuchter verließ sie den Söller, kühl wie eine kleine Klosterfrau. Die andern saßen noch eine Stunde auf, und während die beiden Männer von der Ernte, vom Kaiser und Bischof sprachen, hörte Lydia glühend zu, wie zwischen Goldmund und der Dame ein lässiges Geplauder über nichts gesponnen wurde, zwischen dessen lockeren Fäden aber ein dichtes, süßes Netz von Hin und Her, von Blicken, von Betonungen, von kleinen Gebärden entstand, deren jede mit Bedeutung überladen, mit Wärme überheizt war. Das Mädchen sog die Atmosphäre mit Lüsternheit und auch mit Abscheu ein, und wenn sie sah oder fühlte, wie Goldmunds Knie unterm Tisch das der Fremden berührte, empfand sie die Berührung am eigenen Leibe und zuckte auf. Nachher schlief sie nicht und horchte die halbe Nacht mit Herzklopfen, überzeugt, daß die beiden zusammenkommen würden. Sie vollzog, was jenen versagt war, in ihrer Einbildung, sie sah die beiden sich umschlingen, hörte ihre Küsse, dabei zitterte sie zugleich vor Erregung, indem sie ebenso fürchtete wie wünschte, es möge der hintergangene Ritter die Liebenden überraschen und dem scheußlichen Goldmund sein Messer ins Herz stoßen.
Andern Morgens war der Himmel bezogen, es ging ein feuchter Wind, und der Gast, alle Einladungen zu längerem Bleiben abwehrend, drang auf raschen Aufbruch. Lydia stand dabei, als die Gäste zu Pferde stiegen, sie drückte Hände und sprach Abschiedsworte, aber sie wußte nichts davon, alle ihre Sinne waren in dem Blick, mit dem sie zusah, wie die Rittersfrau beim Aufsteigen ihren Fuß in Goldmunds dargebotene Hände setzte, und wie seine Rechte breit und fest um den Schuh griff und den Frauenfuß einen Augenblick kräftig umspannte.
Die Fremden waren weggeritten, Goldmund mußte m die Schreibstube und arbeiten. Nach einer halben Stunde hörte er unten Lydias befehlende Stimme, hörte ein Pferd vorführen, sein Herr trat ans Fenster und schaute hinab, lächelnd und kopfschüttelnd, dann sahen sie beide Lydia nach, wie sie aus dem Hofe ritt. Sie kamen heute weniger vorwärts in ihrer lateinischen Schriftstellerei, Goldmund war zerstreut; freundlich entließ ihn sein Herr, früher als sonst.
Unbemerkt brachte Goldmund sich und sein Pferd aus dem Hofe, dem kühlfeuchten Herbstwind entgegen ritt er in die verfärbte Landschaft, rascher und rascher trabend fühlte er das Pferd unter sich warm werden und sein eigenes Blut sich befeuern. Über Stoppelfelder und Brachland, über Heide und über Moorstellen, mit Schachtelhalm und Riedgras bewachsen, ritt er aufatmend durch den grauen Tag, durch kleine Erlentäler, durch modrigen Fichtenwald, und wieder über bräunliche leere Heide.
Auf einem hohen Hügelkamm, scharf gegen den lichtgrauen Wolkenhimmel, entdeckte er Lydias Gestalt, hoch saß sie auf langsam trabendem Pferd. Er stürmte zu ihr; kaum sah sie sich verfolgt, trieb sie ihren Gaul an und floh davon. Bald verschwand sie, bald war sie sichtbar mit wehenden Haaren. Wie einer Beute jagte er ihr nach, sein Herz lachte, mit kleinen zärtlichen Rufen ermunterte er sein Pferd, las mit frohen Augen im Hinfliegen die Kennzeichen der Landschaft ab, die hingeduckten Felder, das Erlengehölz, die Ahorngruppen, die lehmigen Ufer der Tümpel, ließ immer wieder den Blick zu seinem Ziel zurückkehren, der schönen Fliehenden. Bald mußte er sie erreichen. Als Lydia ihn nahe wußte, gab sie die Flucht auf und ließ das Tier im Schritt gehen. Sie wandte sich nicht nach dem Verfolger um. Stolz, scheinbar gleichmütig ritt sie vor sich hin, als wäre nichts gewesen, als wäre sie allein. Er trieb sein Pferd neben ihres, dicht nebeneinander schritten friedlich die beiden Rosse, aber Tier und Reiter waren erhitzt vom Jagen.