Sie kam nach einigen Tagen wieder, das süße weiße Gespenst, und lag eine Viertelstunde bei ihm, wie das letztemal. Flüsternd sprach sie, von seinen Armen umschlossen, ihm ins Ohr, sie hatte viel zu sagen und zu klagen. Zärtlich hörte er ihr zu, sie lag auf seinem linken Arm, mit der rechten Hand streichelte er ihre Knie.
»Goldmündchen«, sagte sie, mit ganz gedämpfter Stimme dicht an seiner Wange, »es ist so traurig, daß ich nie werde dir gehören dürfen. Es wird nicht lang mehr dauern, unser kleines Glück, unser kleines Geheimnis. Julie hat schon Verdacht, bald wird sie mich zwingen, es ihr zu sagen. Oder der Vater merkt es. Wenn er mich bei dir im Bett fände, mein kleiner Goldvogel, dann ginge es deiner Lydia übel; sie stünde mit verweinten Augen und blickte zu den Bäumen hinauf und sähe ihren Liebsten droben hangen und im Winde wehen. Ach du, lauf lieber fort, lieber jetzt gleich, statt daß der Vater dich binden und aufhängen läßt. Ich habe schon einmal einen hängen sehen, einen Dieb. Ich kann dich nicht hängen sehen, du, lauf lieber davon und vergiß mich; daß du nur nicht sterben mußt, Göldchen, daß nur in deine blauen Augen nicht die Vögel hacken! Aber nein, du Schatz, du darfst nicht fortgehen – ach, was mache ich, wenn du mich allein läßt.«
»Willst du denn nicht mit mir kommen, Lydia? Wir fliehen miteinander, die Welt ist groß!«
»Das wäre sehr schön«, klagte sie, »ach wie schön, mit dir durch die ganze Welt zu laufen! Aber ich kann nicht. Ich kann nicht im Walde schlafen und heimatlos sein und Strohhalme in den Haaren haben, ich kann das nicht. Ich kann auch dem Vater nicht die Schande machen. – Nein, rede nicht, es sind keine Einbildungen. Ich kann nicht! Ich könnte es sowenig, als ich aus einem schmutzigen Teller essen oder im Bett eines Aussätzigen schlafen könnte. Ach, uns ist alles verboten, was gut und was schön wäre, wir beide sind zum Leid geboren. Göldchen, mein armer kleiner Junge, ich werde dich am Ende doch müssen hängen sehen. Und ich, ich werde eingesperrt und dann in ein Kloster geschickt. Liebster, du mußt mich verlassen und wieder bei den Zigeunerinnen und Bauernweibern schlafen. Ach geh, geh, ehe sie dich fangen und binden! Nie werden wir glücklich sein, nie.«
Er streichelte sachte ihre Knie, und indem er ganz zart ihre Scham berührte, bat er: »Blümchen, wir könnten so sehr glücklich sein! Darf ich nicht?«
Sie drängte ohne Unwillen, aber mit Kraft seine Hand beiseite und rückte etwas von ihm weg. »Nein«, sagte sie, »nein, das darfst du nicht. Es ist mir verboten. Du kleiner Zigeuner verstehst das vielleicht nicht. Ich tue ja unrecht, ich bin ein schlechtes Mädchen, ich mache dem ganzen Haus Schande. Aber irgendwo in meiner Seele drinnen bin ich doch noch stolz, dort darf niemand hineinkommen. Du mußt mir das lassen, sonst kann ich nie mehr zu dir in die Kammer kommen.«
Nie hätte er ein Verbot, einen Wunsch, eine Andeutung von ihr mißachtet. Er war selbst verwundert darüber, wieviel Macht sie über ihn hatte. Aber er litt. Seine Sinne blieben ungestillt, und sein Herz wehrte sich oft heftig gegen die Abhängigkeit. Manchmal gab er sich Mühe, davon loszukommen. Manchmal machte er der kleinen Julie mit ausgesuchter Artigkeit den Hof, und allerdings war es ja auch sehr notwendig, mit dieser wichtigen Person in einem guten Verhältnis zu bleiben und sie womöglich zu täuschen. Es ging ihm merkwürdig mit dieser Julie, die oft so sehr kindlich tat und oft so allwissend schien. Kein Zweifel, sie war schöner als Lydia, sie war eine ungewöhnliche Schönheit, und dies war, zusammen mit ihrer etwas altklugen Kinderunschuld, für Goldmund ein großer Reiz; er war oft stark in Julie verliebt. Gerade an diesem starken Reiz, den die Schwester für seine Sinne hatte, erkannte er oft mit Erstaunen den Unterschied zwischen Begierde und Liebe. Anfangs hatte er beide Schwestern mit denselben Augen angeschaut, hatte beide begehrenswert, Julie aber schöner und verführenswerter gefunden, hatte unterschiedlos um beide geworben und beide stets im Auge behalten. Und jetzt hatte Lydia diese Macht über ihn gewonnen! Jetzt liebte er sie so sehr, daß er sogar auf ihren völligen Besitz aus Liebe verzichtete. Ihre Seele war ihm bekannt und lieb geworden, in ihrer Kindlichkeit, Zärtlichkeit und ihrer Hinneigung zur Traurigkeit schien sie seiner eigenen ähnlich; oft war er tief erstaunt und entzückt darüber, wie sehr diese Seele ihrem Leibe entsprach; sie konnte etwas tun, etwas sagen, einen Wunsch oder ein Urteil äußern, und ihr Wort und die Haltung ihrer Seele war vollkommen nach derselben Form geprägt wie der Schnitt ihrer Augen und die Bildung ihrer Finger!
Diese Augenblicke, in denen er die Grundformen und Gesetze zu sehen glaubte, nach denen ihr Wesen, Seele wie Leib, gestaltet war, hatten in Goldmund öfters die Lust erweckt, etwas von dieser Gestalt festzuhalten und nachzubilden, und er hatte auf einigen Blättern, die er sehr geheimhielt, Versuche gemacht, mit Federstrichen den Umriß ihres Kopfes, die Linie ihrer Brauen, ihre Hand, ihr Knie aus dem Gedächtnis zu zeichnen.
Mit Julie war es etwas schwierig geworden. Sie witterte sichtlich die Woge von Liebe, in der ihre ältere Schwester schwamm, und ihre Sinne wandten sich voll Neugierde und Begehrlichkeit dem Paradiese zu, ohne daß ihr eigensinniger Verstand es zugeben wollte. Sie zeigte Goldmund eine übertriebene Kühle und Abneigung und konnte ihn in Augenblicken der Vergessenheit doch mit Bewunderung und lüsterner Neugierde betrachten. Mit Lydia war sie oft sehr zärtlich, suchte sie zuweilen auch im Bette auf und atmete dann mit verschwiegener Gier in der Zone der Liebe und des Geschlechts, streifte mutwillig an das verbotene und ersehnte Geheimnis. Dann wieder ließ sie in beinah verletzender Art merken, daß sie um Lydias geheimes Vergehen wisse und es verachte. Reizend und störend flackerte das schöne und launische Kind zwischen den beiden Liebenden, naschte in durstigen Träumen an ihrer Heimlichkeit, spielte bald die Ahnungslose, bald ließ sie gefährliche Mitwisserschaft merken; schnell war sie aus einem Kinde zu einer Macht geworden. Lydia hatte davon mehr zu leiden als Goldmund, der die Kleine außer bei den Mahlzeiten selten zu Gesichte bekam. Es konnte Lydia auch nicht verborgen bleiben, daß Goldmund gegen Julies Reiz nicht unempfindlich war, manchmal sah sie seinen anerkennenden, genießenden Blick auf ihr ruhen. Sie durfte nichts sagen, alles war so schwierig, alles so voll Gefahr, namentlich durfte Julie nicht verstimmt und beleidigt werden; ach, jeden Tag und jede Stunde konnte das Geheimnis ihrer Liebe entdeckt und ihrem schweren angstvollen Glück ein Ende gemacht werden, vielleicht ein schreckliches.
Manchmal wunderte sich Goldmund darüber, daß er nicht längst auf und davon gegangen war. Es war schwer, so zu leben, wie er jetzt lebte: geliebt, aber ohne Hoffnung, weder auf ein erlaubtes und dauerndes Glück, noch auf die leichten Erfüllungen, an welche seine Liebeswünsche bisher gewohnt waren; mit ewig gereizten und hungrigen, nie gestillten Trieben, dabei in beständiger Gefahr. Warum blieb er hier und ertrug das alles, alle diese Verwicklungen und verwirrten Gefühle? Waren das nicht Erlebnisse, Gefühle und Gewissenszustände für Seßhafte, für Legitime, für Leute in geheizten Stuben? Hatte er nicht das Recht des Heimatlosen und Anspruchslosen, sich diesen Zartheiten und Kompliziertheiten zu entziehen und ihrer zu lachen? Ja, dies Recht hatte er, und er war ein Narr, daß er hier etwas wie Heimat suchte und es mit so viel Schmerzen, so viel Verlegenheiten bezahlte. Und dennoch tat und litt er es, litt es gerne, war heimlich glücklich dabei. Es war dumm und schwierig, es war kompliziert und anstrengend, auf eine solche Art zu lieben, aber es war wunderbar. Wunderbar war die dunkelschöne Traurigkeit dieser Liebe, ihre Narrheit und Hoffnungslosigkeit; schön waren diese gedankenvollen Nächte ohne Schlaf; schön und köstlich war dies alles wie der Leidenszug auf Lydias Lippen, wie der verlorene, ergebene Klang ihrer Stimme, wenn sie von ihrer Liebe und Sorge sprach. In wenigen Wochen war dieser Leidenszug auf Lydias jungem Gesicht entstanden und heimisch geworden, dessen Linien mit der Feder nachzuzeichnen ihm so schön und wichtig schien, und er fühlte: in diesen wenigen Wochen war auch er selbst anders und sehr viel älter geworden, nicht klüger und dennoch erfahrener, nicht glücklicher und doch viel reifer und reicher in der Seele. Er war kein Knabe mehr.