Mit ihrer sanften, verlorenen Stimme sagte Lydia zu ihm: »Du mußt nicht traurig sein, nicht meinetwegen, ich möchte dich ja nur fröhlich machen und glücklich sehen. Verzeih, ich habe dich traurig gemacht, ich habe dich mit meiner Angst und Betrübnis angesteckt. Ich träume nachts so merkwürdig: immer gehe ich da in einer Wüste, die ist so groß und so dunkel, wie ich nicht sagen kann, da gehe ich und gehe und suche dich, aber du bist nicht da, und ich weiß, ich habe dich verloren und werde immer, immer so gehen müssen, so allein. Dann, wenn ich erwache, denke ich: o wie gut, o wie herrlich ist es, daß er noch da ist und ich ihn sehen werde, vielleicht noch Wochen oder noch Tage, einerlei, aber er ist noch da!«
Eines Morgens erwachte Goldmund bald nach Tagesanbruch in seinem Bette und blieb eine Weile nachsinnend liegen, Bilder aus einem Traume waren noch um ihn, doch ohne Zusammenhang. Er hatte von seiner Mutter geträumt und von Narziß, beide Gestalten konnte er noch deutlich sehen. Als er sich aus den Traumfäden befreit hatte, fiel ein besonderes Licht ihm auf, eine eigentümliche Art von Helligkeit, die heute durchs kleine Fensterloch hereinkam. Er sprang auf und lief zum Fenster, da sah er das Fenstergesimse, das Dach des Pferdestalls, die Hofeinfahrt und die ganze Landschaft jenseits bläulichweiß schimmern, vom ersten Schnee dieses Winters bedeckt. Der Gegensatz zwischen der Unruhe seines Herzens und der stillen, ergebenen Winterwelt machte ihn betroffen: wie ruhig, wie rührend und fromm gab sich Acker und Wald, Hügel und Heide der Sonne, dem Wind, dem Regen, der Dürre, dem Schnee hin, wie schön und sanft leidend trugen Ahorn und Esche ihre Winterlast! Konnte man nicht werden wie sie, konnte man nichts von ihnen lernen? Gedankenvoll ging er auf den Hof hinaus, watete im Schnee und befühlte ihn mit den Händen, ging zum Garten hinüber und blickte über den hoch beschneiten Zaun in die vom Schnee hinabgebogenen Rosenstämme.
Zum Frühstück aß man eine Mehlsuppe, alle sprachen vom ersten Schnee, alle – auch die Mädchen – waren schon draußen gewesen. Der Schnee kam spät in diesem Jahr, schon war die Weihnacht nahe. Der Ritter erzählte von den südlichen Landern, wo es keinen Schnee gebe. Das aber, was diesen ersten Wimertag für Goldmund unvergeßlich machte, begab sich erst, als es längst Nacht geworden war. Die beiden Schwestern hatten heut einen Zank gehabt, von dem Goldmund nichts wußte. Nachts, als es still und dunkel im Hause geworden war, kam Lydia zu ihm, in ihrer gewohnten Art, sie legte sich schweigend zu ihm und den Kopf an seine Brust, um sein Herz schlagen zu hören und sich an seiner Nähe zu trösten. Sie war betrübt und änstlich, sie fürchtete von Julie Verrat, doch konnte sie sich nicht entschließen, mit dem Liebsten davon zu sprechen und ihm Sorge zu bringen. So lag sie still an seinem Herzen, hörte ihn zuweilen ein Kosewort flüstern und spürte seine Hand in ihren Haaren.
Plötzlich aber – sie war noch nicht lange so gelegen – erschrak sie furchtbar und richtete sich mit weitaufgerissenen Augen hoch auf. Und auch Goldmund erschrak nicht wenig, als er die Kammertür offen und eine Gestalt hereintreten sah, die er im Schrecken nicht sofort erkannte. Erst als die Erscheinung dicht am Bette stand und sich darüber neigte, sah er mit beklommenem Herzen, daß es Julie war. Sie schlüpfte aus einem Mantel, den sie übers bloße Hemd geworfen hatte, und ließ den Mantel zu Boden fallen. Mit einem Wehlaut, als hätte sie einen Messerstich empfangen, sank Lydia zurück und klammerte sich an Goldmund. Mit einem Ton von Hohn und Schadenfreude, aber doch mit unsicherer Stimme, sagte Julie: »Ich mag nicht so allein in der Kammer liegen. Entweder ihr nehmet mich zu euch und wir liegen zu dreien, oder ich gehe und wecke den Vater.«
»Ja, dann komm nur«, sagte Goldmund und schlug die Decke zurück. »Du erfrierst dir ja die Füße.« Sie stieg ein, und er hatte Mühe, ihr auf dem schmalen Lager etwas Raum zu schaffen, denn Lydia hatte das Gesicht ins Kissen vergraben und lag regungslos. Endlich lagen sie alle drei, auf jeder Seite Goldmunds ein Mädchen, und einen Augenblick konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie sehr diese Lage noch vor kurzer Zeit allen seinen Wünschen entsprochen hätte. Mit wunderlichem Bangen, und doch heimlich entzückt, spürte er Julies Hüfte an seiner Seite.
»Ich mußte doch einmal sehen«, fing sie wieder an, »wie es sich denn in deinem Bette liegt, das meine Schwester so gern aufsucht.«
Goldmund, um sie zur Ruhe zu bringen, rieb sachte seine Wange an ihrem Haar und streichelte mit leiser Hand ihre Hüften und Knie, wie man einer Katze schön tut, und sie gab sich schweigend und neugierig in seine tastende Hand, fühlte benommen und andächtig den Zauber, bot keinen Widerstand. Während dieser Beschwörung aber bemühte er sich zugleich um Lydia, summte ihr leise vertraute Liebestöne ins Ohr und brachte sie langsam dazu, wenigstens das Gesicht zu erheben und ihm zuzuwenden. Lautlos küßte er ihr Mund und Augen, während seine Hand drüben die Schwester im Bann hielt und die Peinlichkeit und Verschrobenheit der ganzen Lage ihm bis zur Unerträglichkeit bewußt wurde. Seine linke Hand war es, die ihn belehrte; während sie mit den schönen, still wartenden Gliedern Julies bekannt wurde, empfand er zum erstenmal nicht nur die Schönheit und tiefe Hoffnungslosigkeit seiner Liebe zu Lydia, sondern auch ihre Lächerlichkeit. Er hätte, so schien es ihm jetzt, während seine Lippen bei Lydia waren und seine Hand bei Julien, er hätte Lydia entweder zur Hingabe zwingen oder seines Weges weiterziehen müssen. Sie zu lieben und ihr doch zu entsagen, war ein Unsinn und ein Unrecht gewesen.
»Mein Herz«, flüsterte er Lydien ins Ohr, »wir leiden unnütze Leiden. Wie glücklich könnten wir jetzt alle dreie sein! Laß uns doch tun, was unser Blut verlangt!«
Da sie zurückschaudernd sich entzog, flüchtete seine Begierde zur andern, und seine Hand tat ihr so wohl, daß sie mit einem langen bebenden Seufzer der Wollust antwortete. Als Lydia diesen Seufzer hörte, zog Eifersucht ihr Herz zusammen, als wäre Gift hineingetropft. Sie setzte sich unversehens auf, riß die Decke vom Bett, sprang auf die Füße und rief: »Julie, laß uns gehen!«
Julie zuckte zusammen; schon die unbedachte Heftigkeit dieses Rufs, der sie alle verraten konnte, zeigte ihr die Gefahr, und sie erhob sich schweigend.
Goldmund aber, in allen seinen Trieben beleidigt und betrogen, umschlang schnell die sich aufrichtende Julie, küßte ihr beide Brüste und flüsterte ihr brennend ins Ohr: »Morgen, Julie, morgen!«
Lydia stand im Hemde und barfuß, auf dem Steinboden krümmten sich ihre Zehen vor Kälte. Sie hob Julies Mantel vom Boden auf und hing ihn ihr um, mit einer leidenden und demütigen Gebärde, die jener auch im Dunkeln nicht entging und die sie rührte und versöhnte. Leise huschten die Schwestern aus der Kammer und davon. Voll widerstreitender Gefühle horchte Goldmund ihnen nach und atmete auf, als es im Hause totenstill blieb.
So waren die drei jungen Menschen aus einem sonderbaren und unnatürlichen Zusammensein in nachdenkliche Einsamkeit verwiesen, denn auch die beiden Schwestern, nachdem sie ihre Schlafstube erreicht hatten, fanden sich nicht zu einer Aussprache, sondern lagen jede einsam, schweigend und trotzig in ihrem Bette wach. Ein Geist des Unglücks und Widerspruchs, ein Dämon der Sinnlosigkeit, Vereinsamung und Seelenverwirrung schien sich des Hauses bemächtigt zu haben. Erst nach Mitternacht entschlief Goldmund, erst gegen den Morgen Julie. Lydia lag wach und gepeinigt, bis überm Schnee der bleiche Tag heraufkam. Sie erhob sich sofort, zog sich an, kniete lang vor ihrem kleinen hölzernen Heiland und betete, und sobald sie auf der Treppe den Schritt ihres Vaters vernahm, ging sie und bat ihn um eine Unterredung. Ohne den Versuch zu machen, zwischen ihrer Sorge um Julies Mädchentugend und ihrer Eifersucht zu unterscheiden, war sie zum Entschluß gekommen, der Sache ein Ende zu machen. Goldmund und Julie schliefen beide noch, als der Ritter schon alles wußte, was Lydia gut befunden hatte, ihm mitzuteilen. Julies Beteiligung an dem Abenteuer hatte sie verschwiegen. Als Goldmund zur gewohnten Stunde in der Schreibstube erschien, sah er den Ritter, der sonst in Hausschuhen und Filzrock seinen Schreibereien obzuliegen pflegte, gestiefelt, im Wams, das Schwert umgehängt, und wußte alsbald, was das bedeute.