In einem Dorfe, wo es bei armen Bauern kein Brot, aber eine Hirsesuppe gab, fand er an einem der nächsten Abende Nachtlager. Neue Erlebnisse warteten hier auf ihn. Die Bäuerin, deren Gast er war, kam in der Nacht mit einem Kinde nieder, und Goldmund war dabei anwesend, man hatte ihn aus dem Stroh geholt, damit er helfe, obwohl sich am Ende nichts für ihn zu tun fand, als daß er das Licht hielt, während die Hebamme beschäftigt war. Er sah zum erstenmal eine Geburt und hing mit erstaunten, glühenden Augen am Gesicht der Gebärenden, plötzlich um ein neues Erlebnis reicher geworden. Wenigstens schien das, was er hier im Gesicht der Gebärenden wahrnahm, ihm sehr bemerkenswert. Beim Schein des Kienspans nämlich, während er mit seiner großen Neugierde in das Gesicht der kreißenden Frau starrte, die in ihren Schmerzen lag, fiel ihm etwas Unerwartetes auf: die Linien im verzerrten Gesicht der Schreienden waren wenig verschieden von jenen, die er im Augenblick des Liebesrausches auf anderen Frauengesichtern gesehen hatte! Der Ausdruck großen Schmerzes in einem Gesicht war heftiger zwar und mehr entstellend als der Ausdruck großer Lust – aber er war im Grunde nicht von ihm verschieden, es war dasselbe etwas grinsende Sichzusammenziehen, dasselbe Aufglühen und Erlöschen. Wunderbar, ohne daß er begriff warum, überraschte ihn diese Einsicht, daß Schmerz und Lust einander ähnlich sein konnten wie Geschwister.
Noch etwas anderes erlebte er in diesem Dorfe. Der Nachbarsfrau wegen, deren er arn Morgen nach der Geburtsnacht ansichtig geworden war und welche alsbald auf die Frage seiner verliebten Augen Antwort gab, blieb er eine zweite Nacht im Dorf und machte die Frau sehr glücklich, denn es war nach langer Zeit und nach allen den aufreizenden und wieder enttäuschenden Verliebtheiten dieser letzten Wochen das erstemal, daß sein Trieb wieder Stillung fand. Und diese Verzögerung führte zu einem neuen Erlebnis; sie war schuld, daß er am zweiten Tage in ebenjenem Bauerndorf einen Kameraden antraf, einen langen verwegenen Kerl namens Viktor, der halb wie ein Pfaff und halb wie ein Schnapphahn aussah, der ihn mit lateinischen Brocken begrüßte und sich als fahrenden Schüler zu erkennen gab, obwohl er über die Schülerjahre lang hinaus war.
Dieser spitzbärtige Mann begrüßte Goldmund mit einer gewissen Herzlichkeit und mit einem Landstreicherhumor, mit dem er den jungen Kameraden rasch gewann. Auf dessen Frage, wo er denn Schüler gewesen sei und wohin seine Reise ziele, deklamierte der sonderbare Bruder: »Hohe Schulen hab ich, bei meiner armen Seele, genug besucht, in Köln und Paris bin ich gewesen, und über die Metaphysik der Leberwurst ist selten Gehaltvolleres gesagt worden, als ich es in meiner Dissertation zu Leyden tat. Seither, amice, laufe ich armer Swinehund durchs deutsche Reich, von unermeßlichem Hunger und Durst die liebe Seele gefoltert; ich bin Bauernschreck genannt, und meine Profession ist es, die jungen Weiber im Latein zu unterweisen und die Würste vom Rauchfang in meinen Bauch zu zaubern. Mein Ziel ist das Bett der Bürgermeisterin, und wenn ich nicht vorher von den Krähen gefressen werde, so wird es mir kaum erspart bleiben, mich dem lästigen Beruf eines Erzbischofs widmen zu müssen. Besser, kleiner Kollege, ist's von der Hand in den Mund zu leben als umgekehrt, und schließlich hat noch niemals ein Hasenbraten sich wohler gefühlt als in meinem armen Magen. Der König von Böhmen ist mein Bruder, und unser aller Vater ernähret ihn wie mich, aber das Beste dazu läßt er mich selber tun, und vorgestern wollte er mich, hartherzig wie Väter sind, dazu mißbrauchen, einem halbverhungerten Wolf das Leben zu retten. Hätte ich das Vieh nicht totgeschlagen, Herr Kollege, du wärest nie der Ehre teilhaftig geworden, meine angenehme Bekanntschaft zu machen. In saecula saeculorum, Amen.«
Goldmund, noch wenig mit dem Galgenhumor und dem Vagantenlatein dieser Gattung bekannt, fürchtete sich zwar ein wenig vor dem langen struppigen Flegel und dem wenig angenehmen Gelächter, mit dem er seine eigenen Spaße begleitete, aber etwas an diesem hartgesottenen Landstreicher gefiel ihm doch, und er ließ sich leicht dazu bereden, die Fahrt gemeinsam fortzusetzen, denn mochte das mit dem erschlagenen Wolf nun geflunkert sein oder nicht, auf jeden Fall war man zu zweien stärker und hatte weniger zu fürchten. Aber ehe sie weiterzogen, wollte Bruder Viktor mit den Bauern Latein reden, wie er es nannte, und quartierte sich bei einem Bäuerchen ein. Er machte es nun nicht so, wie Goldmund es bisher auf allen Wanderungen gehalten hatte, wenn er in einem Gehöft oder Dorf zu Gast gewesen war, sondern er strich von Hütte zu Hütte, fing mit jedem Weibe ein Geplauder an, steckte die Nase in jeden Stall und jede Küche und schien nicht gesonnen, den Weiler eher zu verlassen, als bis jedes Haus ihm einen Zoll und Tribut entrichtet hätte. Er erzählte den Bauern vom Krieg in Welschland und sang am Herd das Lied von der Paviaschlacht, er empfahl den Großmüttern Mittel gegen Gliedersucht und Zahnausfall, er schien alles zu wissen und überall gewesen zu sein, er stopfte sich das Hemd überm Gürtel zum Platzen voll mit geschenkten Brotstücken, Nüssen, Birnenschnitzen. Verwundert sah Goldmund ihm zu, wie er unermüdlich seinen Feldzug vollführte, wie er die Leute bald erschreckte, bald durch Schmeicheln gewann, wie er sich aufspielte und bestaunen ließ, wie er bald Latein radebrechte und den Gelehrten spielte, bald durch eine buntscheckig freche Gaunersprache Eindruck machte, wie er mitten im Erzählen oder Gelehrtreden mit scharfen wachsamen Augen jedes Gesicht, jede sich öffnende Tischlade, jede Schüssel und jeden Laib registrierte. Er sah, dies war ein gerissener, mit allen Wassern gewaschener Heimatloser, ein Mann, der viel gesehen und erlebt, viel gehungert und gefroren hatte und im bittern Kampf um ein karges gefährdetes Leben klug und frech geworden war. So also wurden die, die lange Zeit auf Wanderschaft lebten. Würde auch er selbst einmal so werden?
Andern Tages zogen sie weiter, zum erstenmal kostete Goldmund das Wandern zu zweien. Drei Tage waren sie miteinander unterwegs, und Goldmund fand dies und jenes von Viktor zu lernen. Die zum Instinkt gewordene Gewohnheit, alles auf die drei großen Bedürfnisse des Heimatlosen zu beziehen: die Sicherung gegen Lebensgefahr, das Finden eines Nachtlagers und das Beschaffen von Nahrung, hatte den seit so vielen Jahren sich Herumtreibenden vieles gelehrt. Aus unscheinbarsten Anzeichen die Nähe menschlicher Wohnungen zu erkennen, auch im Winter, auch in der Nacht, oder jeden Winkel in Wald und Feld haarscharf auf seine Eignung zum Rastort oder Schlafplatz zu prüfen, oder beim Betreten einer Stube im Augenblick den Grad von Wohlstand oder Elend zu wittern, in dem der Besitzer lebte, sowie den Grad seiner Gutherzigkeit, oder seiner Neugierde, oder seiner Furcht – das waren Künste, in welchen Viktor es zur Meisterschaft gebracht hatte. Manches Lehrreiche erzählte er dem jungen Kameraden. Als Goldmund ihm einmal entgegnete, er möge sich den Menschen nicht mit so absichtsvoller Überlegung nähern, und es sei ihm, obwohl er alle diese Künste nicht kenne, auf seine freundliche Bitte hin nur sehr wenige Male das Gastrecht verweigert worden, da lachte der lange Viktor und sagte gutmütig: »Nun ja, Goldmundchen, dir mag es schon glücken, du bist so jung und hübsch und siehst so unschuldig aus, das ist ein guter Quartierzettel. Den Weibern gefällst du, und die Männer denken: ach Gott, der ist harmlos, der tut niemand was zuleid. Aber schau, Brüderchen, der Mensch wird älter, und das Kindergesicht kriegt einen Bart und kriegt Falten, und die Hosen kriegen Löcher, und unversehens ist man ein häßlicher und unwillkommener Gast, und statt der Jugend und Unschuld schaut einem bloß noch der Hunger aus den Augen; dann muß einer hart geworden sein und etwas von der Welt gelernt haben, sonst liegt er bald auf dem Mist, und die Hunde schiffen ihn an. Aber mir scheint, du wirst ohnehin nicht lang so herumtraben, du hast zu feine Hände, du hast zu hübsche Locken, du wirst dich schon wieder dahin verkriechen, wo es sich besser leben läßt, in ein hübsches warmes Ehebett, oder in ein hübsches fettes Klösterchen, oder in eine schön geheizte Schreibstube. Du hast auch so nette Kleider an, man könnte dich für einen Junker ansehen.«