Er fuhr, immer lachend, mit der Hand über Goldmunds Kleidung, und dieser spürte, wie die Hand an allen Taschen und Nahten suchte und tastete; er entzog sich und dachte an seinen Dukaten. Er erzählte von seinem Aufenthalt beim Ritter und wie er durch lateinische Schreibereien das schöne Kleid verdient habe. Aber Viktor wollte wissen, warum er denn mitten im rauhen Winter ein so warmes Nest wieder verlassen habe, und Goldmund, des Lügens ungewohnt, erzählte ihm ein wenig von den zwei Ritterstöchtern. Da kam es zum ersten Streit zwischen den Kameraden. Viktor fand, Goldmund sei ein Esel ohnegleichen, daß er da einfach davonlaufe und die Burg und die Jungfern darin dem lieben Gott überlasse. Das müsse gutgemacht werden, er werde schon sehen. Sie würden die Burg aufsuchen, und natürlich dürfe man Goldmund dort nicht sehen, aber da solle er ihn nur sorgen lassen. Er müsse ein Briefchen an Lydia schreiben, so und so, und damit werde er, Viktor, die Burg aufsuchen und werde, bei des Heilands Wunden, nicht aus ihr zurückkommen, ohne dies und jenes an Geld und Gut mit herauszubringen. Und so weiter. Goldmund wehrte ab und wurde endlich heftig; er weigerte sich, noch ein Wort in dieser Sache anzuhören oder den Namen des Ritters und den Weg zu ihm zu verraten.
Viktor, als er ihn so erzürnt sah, lachte wieder und spielte den Gutmütigen. »Na«, sagte er, »beiß dir nur keine Zähne aus! Ich sage dir bloß: einen guten Fang lassest du uns da entgehen, mein Junge, und eigentlich ist das nicht sehr nett und kollegial von dir. Aber du willst also nicht, du bist ein edler Herr, zu Pferde wirst du in deine Burg zurückkehren und das Fräulein heiraten! Junge, wie hast du den Kopf voll edler Dummheiten! Na, meinetwegen, wir ziehen also weiter und frieren uns die Zehen ab.«
Goldmund blieb verstimmt und schweigsam bis zum Abend, aber da sie an diesem Tag keine Wohnstatt und keine Menschenspuren antrafen, ließ er es dankbar geschehen, daß Viktor eine Stelle zum Nachtlager aussuchte, daß er zwischen zwei Stämmen am Waldrand einen Rückenschutz baute und ein Lager aus reichlichen Tannenzweigen aufschüttete. Sie aßen Brot und Käse aus Viktors vollen Taschen, Goldmund schämte sich seines Zorns und zeigte sich artig und hilfreich, er bot dem Kameraden seine Wolljacke für die Nacht an, sie wurden einig, abwechselnd Wache zu halten, des Getiers wegen, und Goldmund übernahm die erste Wache, während der andere sich auf die Tannenzweige legte. Lange Zeit stand Goldmund an einen Fichtenstamm gelehnt und hielt sich ruhig, um den andern nicht am Einschlafen zu hindern. Dann fing er an auf und ab zu gehen, da ihn fror. In immer weiterem Abstand lief er hin und her, sah die Tannenwipfel spitz in den bleichen Himmel stechen, empfand die tiefe Stille der Winternacht feierlich und etwas angstvoll, fühlte sein warmes lebendiges Herz einsam in der kalten antwortlosen Stille schlagen und hörte, leise zurückkehrend, dem Atmen seines schlafenden Kameraden zu. Ihn durchdrang stärker als jemals das Gefühl des Heimatlosen, der keine Haus- oder Schloß- oder Klostermauern zwischen sich und der großen Angst gebaut hat, der bloß und allein durch die unbegreifliche, feindliche Welt läuft, allein zwischen den kühlen spöttischen Sternen, zwischen den lauernden Tieren, zwischen den geduldigen standhaften Bäumen.
Nein, dachte er, er würde niemals so werden wie Viktor, und wenn er auch sein Leben lang weiterwanderte. Diese Art, sich gegen das Grauen zu wehren, würde er nicht lernen können, nicht dies schlaue diebische Sichdurchpirschen und auch nicht diese laute, dreiste Art von Narrentum, diesen wortreichen Galgenhumor des Bramarbas. Vielleicht hatte dieser kluge dreiste Mann recht, vielleicht würde Goldmund nie ganz seinesgleichen werden, nie ganz ein Vagant, und eines Tages in irgendwelche Mauern zurückkriechen. Heimatlos und ziellos aber würde er dennoch bleiben, nie würde er sich wirklich geschützt und sicher fühlen, immer würde die Welt rätselhaft schön und rätselhaft unheimlich ihn umgeben, immer wieder würde er dieser Stille lauschen müssen, in deren Mitte das schlagende Herz so bang und vergänglich war. Wenige Sterne waren zu sehen, es war windstill, in der Höhe aber schien das Gewölk bewegt.
Nach einer langen Zeit wurde Viktor wach – er hatte ihn nicht wecken mögen – und rief ihn an.
»Komm«, rief er, »du mußt nun schlafen, sonst bist du morgen nichts wert.«
Goldmund gehorchte, er legte sich aufs Lager und schloß die Augen. Müde war er genug, doch schlief er nicht, Gedanken hielten ihn wach, und außer den Gedanken ein Gefühl, das er sich selbst nicht eingestand, ein Gefühl von Bangigkeit und Mißtrauen, das sich auf seinen Kameraden bezog. Unbegreiflich war ihm jetzt, daß er diesem derben, laut lachenden Menschen, diesem Witzbold und frechen Bettler von Lydia hatte erzählen können! Er war böse auf ihn und auf sich selber, und sorgenvoll sann er über die beste Art und Gelegenheit nach, sich wieder von ihm zu trennen. Er mußte aber doch in einen halben Schlaf gesunken sein, denn er erschrak und war überrascht, als er Viktors Hände an sich spürte, wie sie seine Kleider vorsichtig abtasteten. In der einen Tasche hatte er sein Messer, in der andern den Dukaten; beides würde Viktor unfehlbar stehlen, wenn er es fände. Er stellte sich schlafend, drehte sich wie schlaftrunken hin und her, rührte die Arme, und Viktor zog sich zurück. Goldmund war sehr böse auf ihn, er beschloß, sich morgen von ihm zu trennen.
Als aber, nach einer Stunde vielleicht, Viktor sich von neuem über ihn beugte und mit dem Absuchen begann, wurde Goldmund kalt vor Wut. Ohne sich zu rühren, tat er die Augen auf und sagte verächtlich: »Geh jetzt, es gibt hier nichts zu stehlen.«
Im Schrecken über den Anruf griff der Dieb zu und drückte die Hände um Goldmunds Hals. Als der sich wehrte und aufbäumte, drückte der andere fester zu und kniete ihm zugleich auf die Brust. Goldmund, als er keinen Atem mehr bekam, riß und zuckte heftig mit dem ganzen Leibe, und als er nicht loskam, durchfuhr ihn plötzlich die Todesangst und machte ihn klug und hellsichtig. Er brachte die Hand in die Tasche, brachte, während der andere weiterwürgte, das kleine Jagdmesser heraus und stieß plötzlich und blindlings mehrere Male in den über ihm Knienden hinein. Nach einem Augenblick ließen Viktors Hände locker, es gab Luft, tief und wild einatmend kostete Goldmund sein gerettetes Leben. Nun versuchte er sich aufzurichten, da sank über ihm der lange Kamerad schlaff und weich mit einem furchtbaren Stöhnen zusammen, und sein Blut lief über Goldmunds Gesicht. Erst jetzt vermochte er hochzukommen. Da sah er im grauen Nachtschein den Langen zusammengefallen liegen; als er nach ihm griff, langte er in lauter Blut. Er hob ihm den Kopf, der fiel schwer und weich wie ein Sack zurück. Aus seiner Brust und seinem Hals troff das Blut immerzu, aus seinem Munde floß in irren, schon schwächer werdenden Seufzern das Leben fort.
»Nun habe ich einen Menschen umgebracht«, dachte Goldmund und dachte es immer wieder, während er über dem Sterbenden kniete und auf seinem Gesicht die Blässe sich verbreiten sah. »Liebe Mutter Gottes, nun habe ich getötet«, hörte er sich selber sprechen.
Plötzlich wurde es ihm unerträglich, hier zu bleiben. Er hob sein Messer auf, wischte es an dem Wollenzeug ab, das der andere trug und das von Lydias Händen für ihren Liebsten gestrickt worden war; er steckte das Messer in die hölzerne Scheide und in die Tasche zurück, sprang auf und lief aus allen Kräften davon.