Am Abend jenes Tages fand er in einem Kloster Obdach, wohnte am Morgen der Messe bei; wunderlich wallte es in seinem Herzen von tausend Erinnerungen, ergreifend heimatlich roch ihm die kühle Steinluft der Gewölbe, klang ihm das Klappern der Sandalen auf den Fliesengängen. Als die Messe vorüber und es still in der Klosterkirche geworden war, blieb Goldmund knien, sein Herz war wunderlich bewegt, er hatte nachts viel geträumt. Er empfand den Wunsch, sich irgendwie seiner Vergangenheit zu entledigen, irgendwie sein Leben zu ändern, er wußte nicht warum, vielleicht war es nur die Erinnerung an Mariabronn und an seine fromme Jugend, die ihn bewegte. Er fühlte sich getrieben, eine Beichte abzulegen und sich zu reinigen, viele kleine Sünden, viele kleine Laster waren zu bekennen, schwerer aber als alles lag der Tod Viktors auf ihm, der von seiner Hand gestorben war. Er fand einen Pater, dem legte er Beichte ab, über dies und jenes, besonders aber über die Messerstiche in des armen Viktors Hals und Rücken. O wie lange hatte er nicht gebeichtet! Zahl und Schwere seiner Sünden schien ihm beträchtlich, er wäre bereit gewesen, eine tüchtige Strafe dafür abzubüßen. Aber der Beichtvater schien das Leben der Fahrenden zu kennen, er entsetzte sich nicht, ruhig hörte er zu, ernst und freundlich tadelte er und mahnte, ohne an eine Verdammung zu denken. Erleichtert erhob sich Goldmund, betete nach des Paters Vorschrift am Altar und wollte schon die Kirche wieder verlassen, da fiel ein Sonnenstrahl durch eines der Fenster, dem folgte sein Blick, und da sah er in einer Seitenkapelle eine Figur stehen, die sprach so sehr zu ihm und zog ihn an, daß er sich mit liebenden Augen zu ihr wendete und sie voll Andacht und tiefer Bewegung betrachtete. Es war eine Mutter Gottes aus Holz, die stand so zart und sanft geneigt, und wie der blaue Mantel von ihren schmalen Schultern niederfiel, und wie sie die zarte mädchenhafte Hand ausstreckte, und wie über einem schmerzlichen Mund die Augen blickten und die holde Stirn sich wölbte, das war alles so lebendig, so schön und innig und beseelt, wie er es nie gesehen zu haben meinte. Diesen Mund zu betrachten, diese liebe innige Bewegung des Halses, daran konnte er sich nicht ersättigen. Ihm schien, er sehe da etwas stehen, was er in Träumen und Ahnungen oft und oft schön gesehen, wonach er oft sich gesehnt habe. Mehrmals wandte er sich zum Gehen, und immer zog es ihn wieder zurück.
Da er endlich doch gehen wollte, stand hinter ihm der Pater, dem er vorher gebeichtet hatte. »Du findest sie schön?« fragte er freundlich. »Unaussprechlich schön«, sagte Goldmund. »Manche sagen das«, sagte der Geistliche. »Und wieder andere sagen, das sei keine rechte Mutter Gottes, sie sei viel zu neumodisch und weltlich, und alles sei übertrieben und unwahr. Man hört viel darüber streiten. Dir also gefällt sie, das freut mich. Sie steht erst seit einem Jahr in unserer Kirche, ein Gönner unseres Hauses hat sie gestiftet. Sie ist vom Meister Niklaus gemacht.«
»Meister Niklaus? Wer ist das, wo ist er? Kennt Ihr ihn? O bitte, sagt mir etwas von ihm! Es muß ein herrlicher und begnadeter Mann sein, der so etwas zu schaffen vermag.«
»Ich weiß nicht viel von ihm. Er ist Bildschnitzer in unserer Bischofsstadt, eine Tagreise von hier, und hat als Künstler einen großen Ruf. Künstler pflegen keine Heilige zu sein, und auch er ist wohl keiner, aber ein begabter und hochgesinnter Mann ist er gewiß. Gesehen habe ich ihn manchmal …«
»Oh, Ihr habt ihn gesehen! Oh, wie sieht er aus?«
»Mein Sohn, du scheinst ja ganz bezaubert von ihm zu sein. Nun, so suche ihn auf und sage ihm einen Gruß von Pater Bonifazius.«
Goldmund dankte überschwenglich. Lächelnd ging der Pater davon, er aber stand noch lange vor dieser geheimnisvollen Figur, deren Brust zu atmen schien und in deren Gesicht so viel Schmerz und so viel Süße beisammenwohnte, daß es ihm das Herz zusammenzog.
Verwandelt trat er aus der Kirche, durch eine ganz und gar veränderte Welt trugen ihn seine Schritte. Seit jenem Augenblick vor der süßen, heiligen Figur aus Holz besaß Goldmund etwas, was er noch nie besessen, was er an andern so oft belächelt oder beneidet hatte: ein Ziel! Er hatte ein Ziel, und vielleicht würde er es erreichen, und vielleicht würde dann sein ganzes, zerfahrenes Leben einen hohen Sinn und Wert bekommen. Mit Freude und mit Furcht durchdrang ihn dies neue Gefühl und beflügelte seine Schritte. Diese schöne heitere Landstraße, auf der er ging, war nicht mehr, was sie gestern gewesen war, ein festlicher Tummelplatz und bequemer Aufenthalt, sie war nur noch eine Straße, war der Weg zur Stadt, der Weg zum Meister. Ungeduldig lief er. Noch vor Abend langte er an, sah hinter den Mauern Türme prangen, sah gemeißelte Wappen und gemalte Schilder überm Tor, schritt mit pochendem Herzen hindurch und achtete kaum auf den Lärm und das frohe Gedränge der Gassen, auf die Ritter zu Pferde, auf die Wagen und Karossen. Nicht Ritter noch Wagen, nicht Stadt noch Bischof waren ihm wichtig. Gleich den ersten Menschen unterm Tore fragte er, wo der Meister Niklaus wohne, und war schwer enttäuscht, daß der nichts von ihm wußte.
Er kam auf einen Platz voll stattlicher Häuser, viele waren bemalt oder mit plastischem Bildwerk geschmückt. Über einer Haustür stand groß und prangend die Figur eines Landsknechtes, mit kräftig lachenden Farben. Er war nicht so schön wie die Figur in jener Klosterkirche, aber er stand auf eine Art da und drückte die Waden heraus und streckte das bärtige Kinn in die Welt, daß Goldmund doch dachte, auch diese Gestalt könnte derselbe Meister gemacht haben. Er ging in das Haus hinein, klopfte an Türen, stieg Treppen hinan, stieß endlich auf einen Herrn im pelzbesetzten Sammetrock, den fragte er, wo er den Meister Niklaus finden könne. Was er denn von ihm wolle, fragte der Herr zurück, und Goldmund hatte Mühe, sich zu beherrschen und nur zu sagen, er habe einen Auftrag an ihn. Der Herr nannte ihm nun die Gasse, wo der Meister wohne, und bis Goldmund sich dahin durchgefragt hatte, war es Nacht geworden. Beklommen und doch sehr glücklich stand er vor dem Haus des Meisters, schaute zu den Fenstern hinauf und wäre beinah hineingelaufen. Doch fiel ihm ein, daß es schon spät und daß er verschwitzt und staubig vom Tagesmarsch sei, und er bezwang sich und wartete. Aber er stand noch lange Zeit vor dem Hause. Er sah ein Fenster hell werden, und eben als er sich zum Gehen wandte, sah er eine Gestalt ans Fenster treten, ein sehr schönes blondes Mädchen, durch deren Haar von hinten der sanfte Ampelschimmer floß.
Am andern Morgen, als die Stadt wieder wach und laut geworden war, wusch sich Goldmund in dem Kloster, dessen Nachtgast er gewesen war, Gesicht und Hände, klopfte den Staub von Kleidern und Schuhen, suchte sich in jene Gasse zurück und pochte am Haustor. Es kam eine Magd, die wollte ihn nicht gleich zum Meister führen, aber es gelang ihm, die alte Frau zu erweichen, und sie führte ihn doch hinein. In einem kleinen Saal, der seine Werkstatt war, stand in einer Arbeitsschürze der Meister, ein bärtiger großer Mann von vierzig oder fünfzig Jahren, wie es Goldmund schien. Er sah den Fremden aus hellblauen scharfen Augen an und fragte kurz, was er begehre. Goldmund richtete den Gruß des Paters Bonifazius aus.
»Weiter nichts?«
»Meister«, sagte Goldmund mit beengtem Atem, »ich habe Eure Mutter Gottes dort im Kloster gesehen. Ach, schauet mich nicht so unfreundlich an, es ist lauter Liebe und Verehrung, was mich zu Euch führte. Ich bin nicht ängstlich, ich habe lang auf Wanderung gelebt und den Wald und den Schnee und den Hunger geschmeckt, es gibt keinen Menschen, vor dem ich Furcht haben könnte. Aber vor Euch habe ich Furcht. Oh, ich habe einen einzigen, großen Wunsch, von dem ist mein Herz so voll, daß es weh tut.«