Die Liebe und Wollust schien ihm das einzige zu sein, wodurch das Leben wahrhaft erwärmt und mit Wert erfüllt werden könne. Unbekannt war ihm Ehrgeiz, Bischof oder Bettler galt ihm gleich; auch Erwerb und Besitz vermochte ihn nicht zu fesseln, er verachtete sie, er hätte ihnen nie das kleinste Opfer gebracht und warf das Geld, das er zu manchen Zeiten reichlich verdiente, sorglos weg. Die Liebe der Frauen, das Spiel der Geschlechter, das stand ihm obenan, und der Kern seiner häufigen Neigung zu Traurigkeit und Überdruß wuchs aus der Erfahrung von der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Wollust. Das rasche, flüchtige, entzückende Auflodern der Liebeslust, ihr kurzes sehnliches Brennen, ihr rasches Erlöschen – dies schien ihm den Kern alles Erlebens zu enthalten, dies wurde ihm zum Bilde für alle Wonne und alles Leid des Lebens. Jener Trauer und jenem Vergänglichkeitsschauer konnte er sich mit ebensolcher Hingabe überlassen wie der Liebe, und auch diese Schwermut war Liebe, auch sie war Wollust. So wie die Liebeswonne im Augenblick ihrer höchsten, seligsten Spannung sicher ist, mit dem nächsten Atemzug hinschwinden und wiederum sterben zu müssen, so war auch die innigste Einsamkeit und Hingabe an die Schwermut sicher, plötzlich verschlungen zu werden vom Verlangen, von neuer Hingabe an die lichte Seite des Lebens. Tod und Wollust waren eines. Die Mutter des Lebens konnte man Liebe oder Lust nennen, man konnte sie auch Grab und Verwesung nennen. Die Mutter war Eva, sie war die Quelle des Glücks und die Quelle des Todes, sie gebar ewig, tötete ewig, in ihr waren Liebe und Grausamkeit eins, und ihre Gestalt wurde ihm zum Gleichnis und heiligen Sinnbild, je länger er sie in sich trug.
Er wußte, nicht mit Worten und Bewußtsein, aber mit dem tieferen Wissen des Blutes, daß sein Weg zur Mutter führe, zur Wollust und zum Tode. Die väterliche Seite des Lebens, der Geist, der Wille, war nicht seine Heimat. Dort war Narziß zu Hause, und jetzt erst durchdrang und verstand Goldmund seines Freundes Worte ganz und sah in ihm sein Gegenspiel, und dies bildete er auch in seiner Johannesfigur und machte es sichtbar. Man konnte sich nach Narziß bis zu Tränen sehnen, man konnte wunderbar von ihm träumen – ihn erreichen, werden wie er aber konnte man nicht.
Mit irgendeinem geheimen Sinn ahnte Goldmund auch das Geheimnis seiner Künstlerschaft, seiner innigen Liebe zur Kunst, seines zeitweiligen wilden Hasses gegen sie. Ohne Gedanken, gefühlhaft ahnte er in vielerlei Gleichnissen: die Kunst war eine Vereinigung von väterlicher und mütterlicher Welt, von Geist und Blut; sie konnte im Sinnlichsten beginnen und ins Abstrakteste führen, oder konnte in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden. Alle jene Kunstwerke, die wahrhaft erhaben und nicht nur gute Gauklerstückchen, sondern vom ewigen Geheimnis erfüllt waren, zum Beispiel jene Mutter Gottes des Meisters, alle jene echten und unzweifelhaften Künstlerwerke hauen dies gefährliche, lächelnde Doppelgesicht, dies Mann-Weibliche, dies Beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit. Am meisten aber würde die Eva-Mutter dieses Doppelgesicht einst zeigen, wenn es ihm einst gelänge, sie zu gestalten.
In der Kunst und im Künstlersein lag für Goldmund die Möglichkeit einer Versöhnung seiner tiefsten Gegensätze, oder doch eines herrlichen, immer neuen Gleichnisses für den Zwiespalt seiner Natur. Aber die Kunst war kein reines Geschenk, sie war keineswegs umsonst zu haben, sie kostete sehr viel, sie verlangte Opfer. Mehr als drei Jahre lang hatte Goldmund ihr das Höchste und Unentbehrlichste geopfert, was er nächst der Liebeswollust kannte: die Freiheit. Das Freisein, das Schweifen im Grenzenlosen, die Willkür des Wanderlebens, das Alleinstehen und Unabhängigsein, das alles hatte er weggegeben. Mochten andere ihn launisch, unbotmäßig und selbstherrlich genug finden, wenn er zuweilen Werkstatt und Arbeit wütend vernachlässigte – für ihn selber war dies Leben Sklaverei, die ihn oft bis zur Unerträglichkeit erbitterte. Es war nicht der Meister, dem er gehorchen mußte, noch die Zukunft, noch die Notdurft – es war die Kunst selbst. Die Kunst, diese scheinbar so geistige Göttin, bedurfte so vieler nichtiger Dinge! Sie brauchte ein Dach überm Kopf, sie brauchte Werkzeuge, Hölzer, Ton, Farben, Gold, sie verlangte Arbeit und Geduld. Ihr hatte er die wilde Freiheit der Wälder geopfert, den Rausch der Weite, die herbe Wollust der Gefahr, den Stolz des Elends, und er mußte das Opfer immer von neuem bringen, mit Würgen und Knirschen.
Einen Teil des Geopferten fand er wieder, eine kleine Rache an der sklavenhaften Ordnung und Seßhaftigkeit seines jetzigen Lebens nahm er in gewissen Abenteuern, die mit der Liebe zusammenhingen, in den Raufhändeln mit Nebenbuhlern. Alle eingesperrte Wildheit, alle eingeklemmte Kraft seines Wesens rauchte zu diesem Notloche hinaus, er wurde ein bekannter und gefürchteter Raufbold. Auf dem Weg zu einem Mädchen oder auf dem Heimweg vom Tanze plötzlich in dunkler Gasse angefallen zu werden, ein paar Stockhiebe zu erhalten, sich blitzschnell herumzuwerfen und von der Verteidigung zum Angriff überzugehen, keuchend den keuchenden Feind an sich zu drücken, ihm die Faust unters Kinn zu hauen, ihn am Haar zu schleifen oder tüchtig am Hals zu würgen, das schmeckte ihm gut und heilte seine dunklen Launen für eine Weile. Und den Frauen gefiel es auch.