»Lasset mich ein paar Worte zu Euch sagen, Meister, es kann geschehen, während Ihr Eure Hände waschet und den Rock anzieht. Ich verdurste nach einem Mundvoll Wahrheit, ich möchte Euch etwas sagen, was ich vielleicht gerade jetzt sagen kann und dann nicht wieder. Es steht so mit mir, daß ich mit einem Menschen sprechen muß, und Ihr seid der einzige, der es vielleicht verstehen kann. Ich spreche nicht zu dem Mann, der eine berühmte Werkstatt hat und der von Städten und Klöstern alle die ehrenvollen Aufträge empfängt und zwei Gehilfen und ein schönes reiches Haus hat. Ich spreche zu dem Meister, der die Mutter Gottes im Kloster draußen gemacht hat, das schönste Bild, das ich kenne. Diesen Mann habe ich geliebt und verehrt, seinesgleichen zu werden schien mir das höchste Ziel auf Erden. Ich habe jetzt eine Figur gemacht, den Johannes, und konnte ihn nicht so vollkommen machen, wie Eure Mutter Gottes ist; aber er ist nun eben so, wie er ist. Eine andere Figur habe ich nicht zu machen, es ist keine vorhanden, die mich verlangt und sie zu machen zwingt. Vielmehr, es ist eine vorhanden, ein fernes heiliges Bild, das ich einmal werde machen müssen, das ich aber heute noch nicht machen kann. Um es machen zu können, muß ich noch viel mehr erfahren und erleben. Vielleicht kann ich es in drei, vier Jahren machen, oder in zehn Jahren oder später, oder auch niemals. Bis dahin aber, Meister, will ich nicht Handwerk treiben und Figuren lackieren und Kanzeln schnitzen und ein Handwerkerleben in der Werkstatt führen und Geld verdienen und so werden, wie alle Handwerker sind, nein, das will ich nicht, sondern ich will leben und wandern, Sommer und Winter spüren, die Welt ansehen und ihre Schönheit und ihr Grauen kosten. Ich will Hunger und Durst erleiden und will das alles wieder vergessen und loswerden, was ich hier bei Euch gelebt und gelernt habe. Ich möchte wohl einmal etwas so Schönes und tief ans Herz Rührendes machen, wie Eure Mutter Gottes ist – aber so werden wie Ihr und so leben, wie Ihr lebet, das will ich nicht.«
Der Meister hatte seine Hände gewaschen und getrocknet, jetzt wendete er sich um und sah Goldmund an. Sein Gesicht war streng, aber nicht böse.
»Du hast gesprochen«, sagte er, »und ich habe gehört. Laß es nun gut sein. Ich erwarte dich nicht zur Arbeit, obwohl viel zu tun ist. Ich betrachte dich nicht als Gehilfen, du brauchst Freiheit. Ich möchte dies und jenes mit dir besprechen, lieber Goldmund; nicht jetzt, in einigen Tagen, du magst dir indessen die Zeit nach Belieben vertreiben. Sieh, ich bin viel älter als du und habe dies und jenes erfahren. Ich denke anders als du, aber ich verstehe dich und das, was du meinst. In ein paar Tagen werde ich dich rufen lassen. Wir werden über deine Zukunft sprechen, ich habe allerlei Pläne. Bis dahin habe Geduld! Ich weiß gut genug, wie es ist, wenn man ein Werk fertiggebracht hat, das einem am Herzen lag, ich kenne diese Leere. Sie geht vorüber, glaube mir.«
Unbefriedigt lief Goldmund weg. Der Meister meinte es gut mit ihm, aber was konnte er ihm helfen?
Am Fluß kannte er eine Stelle, dort war das Wasser nicht tief und strömte über einen Grund voll Gerumpel und Abfall, aus den Häusern der Fischervorstadt wurde dort allerlei Kehricht in den Fluß geworfen. Dahin ging er, setzte sich auf die Ufermauer und blickte ins Wasser hinab. Wasser liebte er sehr, jedes Wasser zog ihn an. Und wenn man von hier aus durch das strömende, kristallfädige Wasser hinabschaute auf den dunklen undeutlichen Grund, dann sah man hier und dort irgend etwas mit gedämpftem Goldglanz aufblinken und verlockend glitzern, unerkennbare Dinge, vielleicht eine alte Tellerscherbe oder eine weggeworfene verbogene Sichel oder einen lichten glatten Stein oder glasierten Ziegel, manchmal auch mochte es ein Schlammfisch sein, eine feiste Trüsche oder ein Rotauge, das sich da unten umdrehte und einen Augenblick auf den hellen Bauchflossen und Schuppen einen Lichtstrahl auffing – niemals konnte man genau erkennen, was es eigentlich sei, immer aber war es zauberhaft schön und verlockend, dies kurze gedämpfte Aufblinken versunkener Goldschätze im nassen schwarzen Grunde. So wie dies kleine Wassergeheimnis, schien ihm, waren alle echten Geheimnisse, alle wirklichen, echten Bilder der Seele: sie hatten keinen Umriß, sie hatten keine Form, sie ließen sie nur wie eine ferne schöne Möglichkeit ahnen, sie waren verschleiert und vieldeutig. Wie da in der Dämmerung der grünen Flußtiefe für zuckende Augenblicke etwas unsäglich Goldenes oder Silbernes herblinkte, ein Nichts und doch voll seligster Versprechungen, ebenso konnte das verlorene Profil eines Menschen, halb von hinten gesehen, manchmal etwas unendlich Schönes oder unerhört Trauriges ankündigen, oder auch: wie unter einem nächtlichen Lastwagen eine Laterne hing und die sich drehenden riesigen Schatten der Radspeichen an die Mauern malte, konnte dies Schattenspiel eine Minute lang so voll von Anblicken, Geschehnissen und Geschichten sein wie der ganze Vergil. Aus demselben unwirklichen, magischen Stoff waren nachts die Träume gewoben, ein Nichts, das alle Bilder der Welt in sich enthielt, ein Wasser, in dessen Kristall die Formen aller Menschen, Tiere, Engel und Dämonen als allzeit wache Möglichkeiten wohnten.
Wieder vertiefte er sich in das Spiel, starrte verloren in den ziehenden Fluß, sah formlose Schimmer auf dem Grunde beben, ahnte Königskronen und blanke Frauenschultern. Einstmals in Mariabronn, so erinnerte er sich, hatte er in den lateinischen und griechischen Buchstaben ähnliche Formträume und Verwandlungszauber gesehen. Hatte er nicht damals mit Narziß einmal darüber gesprochen? Ach, wann war das gewesen, vor wieviel hundert Jahren? Ach, Narziß! Um den zu sehen, um mit dem eine Stunde zu sprechen, seine Hand zu halten, seine ruhige kluge Stimme zu hören, hätte er gern seine zwei Golddukaten gegeben.
Warum waren denn diese Dinge so schön, dies Goldgeleucht unterm Wasser, diese Schatten und Ahnungen, alle diese unwirklichen und feenhaften Erscheinungen – warum waren sie denn so unsäglich schön und beglückend, da sie doch genau das Gegenteil von dem waren, was ein Künstler Schönes machen konnte? Denn wenn die Schönheit jener unnennbaren Dinge ohne jede Form war und ganz nur aus Geheimnis bestand, so war es ja bei Werken der Kunst gerade umgekehrt, sie waren ganz und gar Form, sie sprachen vollkommen klar. Nichts war unerbittlich klarer und bestimmter als die Linie eines gezeichneten oder in Holz geschnittenen Kopfes oder Mundes. Genau, haargenau hätte er die Unterlippe oder die Augenlider von Niklaus' Marienfigur nachzuzeichnen vermocht; da gab es nichts Unbestimmtes, Täuschendes, Zerfließendes.
Goldmund dachte hingegeben darüber nach. Es wurde ihm nicht klar, wie es möglich sei, daß das denkbar Bestimmteste und Geformteste ganz ähnlich auf die Seele wirke wie das Ungreifbarste und Gestaltloseste. Eines aber wurde ihm bei dieser Gedankenübung dennoch klar, nämlich warum so viele tadellose und gutgemachte Kunstwerke ihm ganz und gar nicht gefielen, sondern trotz einer gewissen Schönheit ihm langwellig und beinah verhaßt waren. Werkstätten, Kirchen und Paläste waren voll von solchen fatalen Kunstwerken, er selber hatte an einigen mitgearbeitet. Sie waren so schwer enttäuschend, weil sie das Verlangen nach Höchstem erweckten und es doch nicht erfüllten, weil ihnen die Hauptsache fehlte: das Geheimnis. Das war es, was Traum und höchstes Kunstwerk Gemeinsames hatten: das Geheimnis.
Weiter dachte Goldmund: ein Geheimnis ist es, das ich liebe, dem ich auf der Spur bin, das ich mehrmals habe aufblitzen sehen und das ich als Künstler, wenn es mir einmal möglich sein wird, darstellen und zum Sprechen bringen möchte. Es ist die Gestalt der größten Gebärerin, der Urmutter, und ihr Geheimnis besteht nicht, wie das einer anderen Figur, in dieser oder jener Einzelheit, in besonderer Fülle oder Magerkeit, Derbheit oder Zierlichkeit, Kraft oder Anmut, sondern es besteht darin, daß die größten Gegensätze der Welt, die sonst unvereinbar sind, in dieser Gestalt Frieden geschlossen haben und beisammenwohnen: Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung. Hätte ich diese Figur mir ausgesonnen, wäre sie nur mein Gedankenspiel oder ein ehrgeiziger Künstlerwünsch, so wäre es nicht schade um sie, ich könnte ihren Fehler einsehen und sie vergessen. Aber die Urmutter ist kein Gedanke, denn ich habe sie nicht erdacht, sondern gesehen! Sie lebt in mir, immer wieder ist sie mir begegnet. Zuerst habe ich sie geahnt, als ich in einem Dorf, in einer Winternacht, über dem Bett einer gebärenden Bäuerin das Licht halten mußte: damals fing das Bild in mir zu leben an. Oft ist es ferne und verloren, lange Zeit; aber plötzlich zuckt es wieder auf, auch heute wieder. Das Bild meiner eigenen Mutter, einst mein liebstes, hat sich ganz in dies neue Bild verwandelt, es ist in ihm drinnen wie der Kern in einer Kirsche.