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Niemand gab Antwort. Robert lachte, Goldmund blickte sonderbar vor sich hin. Allmählich merkte Lene, daß niemand an den Winter dachte, daß niemand daran dachte, allen Ernstes so lange Zeit am selben Ort zu bleiben, daß die Heimat keine Heimat, daß sie unter Landfahrern war. Sie ließ den Kopf hängen.

Da sagte Goldmund, spielerisch und ermunternd wie zu einem Kind: »Du bist eine Bauerntochter, Lene, die sorgen weit voraus. Hab keine Angst, du wirst schon wieder nach Hause finden, wenn diese Pestzeit vorüber ist, sie wird ja nicht ewig dauern. Dann gehst du zu deinen Eltern oder wen du sonst hast, oder gehst wieder in die Stadt in einen Dienst und hast dein Brot. Jetzt aber ist noch Sommer, und überall in der Gegend ist das Sterben, hier aber ist es hübsch, und es geht uns gut. Darum bleiben wir hier, so lang oder so kurz als es uns gefällt.«

»Und nachher?« rief Lene heftig. »Nachher ist alles aus? Und du gehst fort? Und ich?«

Goldmund haschte ihren Zopf und zog sachte daran.

»Kleines dummes Kind«, sagte er, »hast du die Totenknechte schon vergessen, und die ausgestorbenen Häuser, und das große Loch vor dem Tor, wo die Feuer brennen? Du sollst froh sein, daß du nicht dort in dem Loch liegst und der Regen auf dein Hemdchen regnet. Daran sollst du denken, daß du entronnen bist, daß du noch das liebe Leben in deinen Gliedern hast und noch lachen und singen kannst.«

Sie war noch nicht zufrieden.

»Ich will aber nicht wieder fort«, klagte sie, »und will dich nicht fortlassen, nein. Man kann doch nicht froh sein, wenn man weiß, daß schon bald alles wieder aus und vorbei sein soll!«

Nochmals gab Goldmund Antwort, freundlich, aber mit einem verborgenen Klang von Drohung in der Stimme: »Darüber, kleine Lene, haben sich schon alle Weisen und Heiligen den Kopf zerbrochen. Es gibt kein Glück, das lange dauert. Wenn dir aber das, was wir jetzt haben, nicht gut genug ist und nicht mehr Freude macht, dann zünde ich noch in dieser Stunde die Hütte an, und jeder von uns geht seiner Wege. Laß es gut sein, Lene, es ist genug gesprochen.«

Dabei blieb es, und sie ergab sich, aber ein Schatten war auf ihre Freude gefallen.

Vierzehntes Kapitel

Noch eh der Sommer ganz verblüht war, fand das Hüttenleben sein Ende, anders als sie gedacht hatten. Es kam ein Tag, da trieb sich Goldmund lange mit einer Vogelschleuder in der Gegend herum in der Hoffnung, etwa ein Rebhuhn oder sonst ein Wild zu erwischen, die Nahrung war ziemlich karg geworden. Lene war in der Nähe und sammelte Beeren, manchmal strich er an ihrem Revier vorüber und sah überm Gesträuch ihren Kopf auf dem braunen Hals aus dem Leinenhemd ragen oder hörte sie singen; einmal naschte er ein paar Beeren bei ihr, dann streifte er weiter und sah sie eine Weile nicht mehr. Er dachte an sie, halb zärtlich, halb ärgerlich, sie hatte wieder einmal vom Herbst und von der Zukunft gesprochen, und daß sie schwanger zu sein glaube, und daß sie ihn nicht fortlasse. Nun geht es bald zu Ende, dachte er, bald wird es genug sein, dann wandere ich allein und lasse auch Robert zurück, ich will sehen, daß ich bis gegen den Winter wieder in die große Stadt zu Meister Niklaus komme, dann bleibe ich den Winter dort, und im nächsten Frühling kauf ich mir neue gute Schuhe und ziehe los und schlage mich durch, bis ich in unser Kloster nach Mariabronn komme und Narziß begrüßen kann, es werden wohl zehn Jahre sein, daß ich ihn nicht gesehen habe. Ich muß ihn wiedersehen, sei es auch nur für einen Tag oder zwei.

Ein unvertrauter Laut weckte ihn aus seinen Gedanken, und plötzlich ward ihm bewußt, wie er mit allen Gedanken und Wünschen schon weit fort und nicht mehr hier gewesen war. Er horchte scharf, jener bange Laut wiederholte sich, er glaubte Lenes Stimme zu erkennen und folgte ihr, obwohl es ihm nicht gefiel, daß sie ihm rufe. Bald war er nah genug – ja, das war Lenes Stimme, und sie schrie wie in großer Not seinen Namen. Er lief rascher, noch immer etwas geärgert, bei ihren wiederholten Schreien aber nahmen Mitleid und Besorgnis in ihm überhand. Als er sie endlich sehen konnte, saß oder kniete sie in der Heide, mit ganz zerrissenem Hemde, und rang schreiend mit einem Mann, der sie vergewaltigen wollte. In langen Sprüngen kam Goldmund heran, und was an Ärger, Unruhe und Trauer in ihm gewesen, entlud sich m einer rasenden Wut gegen den fremden Attentäter. Er überraschte ihn, wie er Lene vollends zu Boden drücken wollte, ihre nackte Brust blutete, gierig hielt der Fremde sie umklammert. Goldmund warf sich auf ihn und preßte ihm mit wütenden Händen die Kehle zusammen, die sich hager und sehnig anfühlte und mit wolligem Bart bewachsen war. Mit Wonne drückte Goldmund zu, bis der andere das Mädchen losließ und ihm erschlafft in den Händen hing; weiter würgend schleifte er den Kraftlosen und halb Entseelten ein Stück am Boden fort bis zu einigen grauen Felsrippen, die da nackt aus der Erde standen. Hier hob er den Besiegten, so schwer er war, zweimal, dreimal hoch und ließ seinen Kopf auf die kantigen Felsen schlagen. Mit gebrochenem Genick warf er den Körper weg, sein Zorn war noch nicht gesättigt, er hätte ihn noch weiter mißhandeln mögen.

Strahlend sah Lene zu. Ihre Brust blutete, und sie zitterte noch am ganzen Leibe und schnappte nach Luft, aber sie hatte sich alsbald aufgerafft und sah mit einem entrückten Blick voll Wollust und Bewunderung zu, wie ihr starker Geliebter den Eindringling dahinschleppte, wie er ihn würgte, wie er ihm das Genick brach und seinen Leichnam von sich schmiß. Wie eine totgeschlagene Schlange lag der Tote da, schlaff und verrenkt, sein graues Gesicht mit wüstem Bart und dünnen ärmlichen Haaren hing ihm jämmerlich hintenüber. Jubelnd richtete Lene sich auf und fiel Goldmund ans Herz, doch erbleichte sie plötzlich, der Schrecken lag ihr noch in den Gliedern, es wurde ihr übel, und sie sank erschöpft ins Blaubeerenkraut. Bald aber konnte sie mit Goldmund zur Hütte gehen. Goldmund wusch ihr die Brust, sie war zerkratzt, und die eine Brust hatte eine Bißwunde von den Zähnen des Unholds. Robert regte sich sehr über das Abenteuer auf, hitzig fragte er nach den Einzelheiten des Kampfes.

»Das Genick gebrochen, sagst du? Großartig! Goldmund, man muß dich fürchten.«

Aber Goldmund mochte nicht weiter davon reden, er war jetzt kühl geworden, und im Weggehen von dem Toten hatte er an den armen Schnapphahn Viktor denken müssen, und daß es nun der zweite Mensch sei, der von seiner Hand gestorben war. Um Robert loszuwerden, sagte er: »Nun könntest aber auch du etwas tun. Geh hinüber und schau, daß du die Leiche wegbringst. Wenn es zu schwer geht, ein Loch für sie zu machen, dann muß er in den Schilfsee hinübergetragen oder gut mit Steinen und Erde bedeckt werden.« Aber dies Ansinnen wurde abgelehnt, mit Leichen wollte Robert nichts zu tun haben, man wisse ja bei keiner, ob nicht das Pestgift in ihr stecke.

Lene hatte sich in der Hütte niedergelegt. Der Biß in der Brust schmerzte, doch fühlte sie sich bald besser, stand wieder auf, fachte Feuer an und kochte die Abendmilch; sie war sehr gut gelaunt, wurde aber früh zu Bett geschickt. Sie gehorchte wie ein Lamm, so sehr bewunderte sie Goldmund. Dieser war schweigsam und finster; Robert kannte das und ließ ihn in Ruhe. Als Goldmund spät seine Streu aufsuchte, bückte er sich horchend zu Lene hinab. Sie schlief. Er fühlte sich unruhig, dachte an Viktor, fühlte Bangigkeit und Wandertrieb; er spürte, daß es zu Ende sei mit dem Heimatspielen. Eines aber machte ihn besonders nachdenklich. Er hatte den Blick aufgefangen, mit dem Lene ihn ansah, als er den toten Kerl geschüttelt und weggeworfen hatte. Ein merkwürdiger Blick war das gewesen, er wußte, daß er ihn nie vergessen würde: aus aufgerissenen, entsetzten und entzückten Augen hatte da ein Stolz, ein Triumph gestrahlt, eine tiefe leidenschaftliche Mitlust am Rächen und Töten, wie er sie in einem Frauengesicht nie gesehen und nie geahnt hatte. Wäre dieser Blick nicht gewesen, dachte er, so würde er vielleicht Lenes Gesicht später einmal, mit den Jahren, vergessen haben. Dieser Blick hatte ihr Bauernmädchengesicht groß, schön und schrecklich gemacht. Seit Monaten hatten seine Augen nichts erlebt, das ihn mit dem Wunsch durchzuckte: »Das müßte man zeichnen!« Bei jenem Blick hatte er, mit einer Art von Schrecken, diesen Wunsch wieder zucken gefühlt.