Выбрать главу

Da er nicht schlafen konnte, stand er schließlich auf und ging aus der Hütte. Es war kühl, ein wenig Wind spielte in den Birken. Im Dunkeln ging er auf und ab, setzte sich dann auf einen Stein, saß und versank in Gedanken und in tiefe Traurigkeit. Es tat ihm leid um Viktor, es tat ihm leid um den, den er heut erschlagen hatte, es tat ihm leid um die verlorene Unschuld und Kindheit seiner Seele. War er darum aus dem Kloster fortgegangen, hatte Narziß verlassen, hatte den Meister Niklaus beleidigt und auf die schöne Lisbeth verzichtet – um nun da in einer Heide zu lagern, verlaufenem Vieh aufzulauern, und um dort in den Steinen diesen armen Kerl totzuschlagen? Hatte das alles Sinn, war es wert, gelebt zu werden? Eng wurde ihm das Herz vor Unsinn und Selbstverachtung. Er ließ sich zurücksinken, lag auf den Rücken gestreckt und starrte in das bleiche Nachtgewölk, im langen Starren vergingen ihm die Gedanken; er wußte nicht, blickte er ins Gewölk des Himmels oder in die trübe Welt seines eigenen Innern. Plötzlich, im Augenblick, da er auf dem Stein entschlief, erschien hinzuckend wie ein Wetterleuchten im treibenden Gewölk bleich ein großes Gesicht, das Eva-Gesicht, es blickte schwer und verhangen, plötzlich aber riß es die Augen weit auf, große Augen voll Wollust und voll Mordlust. Goldmund schlief, bis der Tau ihn näßte.

Andern Tags war Lene krank. Man ließ sie liegen, es gab viel zu tun: Robert hatte am Morgen zwei Schafe im Wäldchen angetroffen, die alsbald vor ihm davonflohen. Er holte Goldmund, sie jagten mehr als den halben Tag und fingen eins der Schafe ein; sie waren sehr müde, als sie gegen Abend mit dem Tier zurückkamen. Lene fühlte sich sehr schlecht. Goldmund beschaute und befühlte sie, und fand Pestbeulen. Er verheimlichte es, aber Robert schöpfte Verdacht, als er hörte, Lene sei noch krank, und blieb nicht in der Hütte. Er werde sich draußen eine Schlafstelle suchen, sagte er, und die Ziege nehme er auch mit, auch sie könnte angesteckt werden.

»So schere dich zum Teufel«, schrie Goldmund ihn wütend an, »ich begehre dich nicht wiederzusehen.« Die Ziege packte er und nahm sie zu sich hinter die Ginsterwand. Lautlos verlor sich Robert, ohne Ziege, ihm war übel vor Angst, Angst vor der Pest, Angst vor Goldmund, Angst vor der Einsamkeit und Nacht. Er legte sich nahe der Hütte nieder.

Goldmund sagte zu Lene: »Ich bleibe bei dir, mach dir keine Sorgen. Du wirst schon wieder gesund werden.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nimm dich in acht, Lieber, daß du nicht auch die Krankheit kriegst, du darfst nicht mehr so nahe zu mir herkommen. Gib dir keine Mühe, mich zu trösten. Ich muß sterben, und es ist mir lieber zu sterben, als daß ich eines Tages sehen muß, daß dein Lager leer ist und du mich verlassen hast. Jeden Morgen habe ich daran gedacht und mich gefürchtet. Nein, ich sterbe lieber.«

Am Morgen stand es schon schlecht mit ihr. Goldmund hatte ihr von Zeit zu Zeit einen Schluck Wasser gegeben, hatte zwischenein eine Stunde geschlafen. Jetzt beim Hellwerden erkannte er in ihrem Gesicht deutlich den nahen Tod, es war schon so welk und mürbe. Er trat für einen Augenblick aus der Hütte, um Luft zu schöpfen und nach dem Himmel zu sehen. Ein paar krumme rote Kiefernstämme am Waldrand leuchteten schon sonnig, frisch und süß schmeckte die Luft, die fernen Hügel waren noch unsichtbar im Morgengewölk. Er ging eine kleine Strecke weit, reckte die müden Glieder und holte tief Atem. Schön war die Welt an diesem traurigen Morgen. Nun würde bald die Wanderschaft wieder beginnen. Es galt Abschied zu nehmen.

Vom Walde her rief Robert ihn an. Ob es besser gehe? Wenn es nicht die Pest sei, bleibe er da, Goldmund möge ihm doch nicht böse sein, er habe inzwischen das Schaf gehütet. »Geh zur Hölle samt deinem Schaf!« rief Goldmund ihm zu, »Lene liegt im Sterben, und auch ich bin angesteckt.«

Das letzte war gelogen; er sagte es, um den andern loszuwerden. Mochte dieser Robert ein gutherziger Kerl sein, Goldmund hatte genug von ihm, er war ihm zu feig und zu klein, er paßte ihm allzu schlecht in diese Zeit voll Schicksal und Erschütterung. Robert verlor sich und kam nicht wieder. Hell kam die Sonne herauf.

Als er wieder zu Lene kam, lag sie schlafend. Auch er schlief nochmals ein, im Traum sah er sein einstiges Pferd Bleß und den schönen Klosterkastanienbaum; ihm war zumute, als blicke er aus unendlicher Ferne und Öde auf eine verlorene holde Heimat zurück, und als er erwachte, liefen ihm Tränen über die blondbärtigen Wangen. Mit schwacher Stimme hörte er Lene sprechen; er glaubte, sie rufe ihm, und stemmte sich auf seinem Lager hoch, aber sie sprach zu niemand, sie lallte nur Worte vor sich hin, Koseworte, Schimpfworte, lachte ein wenig, begann alsdann schwer zu seufzen und zu schlucken und wurde allmählich wieder still. Goldmund stand auf, beugte sich über ihr schon entstelltes Gesicht, mit bitterer Neugierde folgte sein Auge den Linien, die sich unterm sengenden Hauch des Todes so elend verbogen und verwirrten. Liebe Lene, rief sein Herz, liebes gutes Kind, willst auch du mich schon verlassen? Hast du schon genug von mir?

Gern wäre er davongelaufen. Wandern, wandern, marschieren, Luft atmen, müde werden, neue Bilder sehen, das hätte ihm wohlgetan, das würde vielleicht seine tiefe Bedrücktheit lindern. Aber er konnte nicht, es war ihm unmöglich, das Kind hier allein liegen und sterben zu lassen. Kaum traute er sich, alle paar Stunden für eine Weile hinauszugehen, um frische Luft zu atmen. Da Lene keine Milch mehr annahm, trank er sich selbst daran satt, sonst war nichts zu essen da. Auch die Ziege führte er einige Male hinaus, daß sie fresse, Wasser trinke und sich bewege. Dann stand er wieder an Lenes Lager, murmelte ihr zärtlich zu, blickte unentwegt in ihr Gesicht und sah trostlos, aber aufmerksam ihrem Sterben zu. Sie war bei Bewußtsein, zuweilen schlief sie, und wenn sie erwachte, öffnete sie die Augen nur noch halb, die Lider waren müd und erschlafft. Hier um die Augen und die Nase herum sah das junge Mädchen von Stunde zu Stunde älter aus, auf dem frischen jungen Hals saß ein schnell welkendes Großmuttergesicht. Sie sprach nur selten ein Wort, sagte »Goldmund« oder »Liebster« und suchte die geschwollenen bläulichen Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Dann gab er ihr ein paar Tropfen Wasser. In der folgenden Nacht starb sie. Sie starb, ohne zu klagen, es war nur ein kurzes Zucken, dann stand der Atem still, und es lief ein Hauch über die Haut, bei dem Anblick wogte ihm das Herz, und es fielen ihm die sterbenden Fische ein, die er oft auf dem Fischmarkt gesehen und bedauert hatte: gerade so waren sie erloschen, mit einem Zuck und mit einem leisen wehen Schauder, der über ihre Haut lief und den Glanz und das Leben mitnahm. Er kniete noch eine Weile neben Lene, dann ging er ins Freie und setzte sich m die Heidekrautbüsche. Die Ziege fiel ihm ein, er ging nochmals hinein und holte das Tier heraus, das sich nach kurzem Herumsuchen zu Boden legte. Er legte sich neben sie, den Kopf auf ihrer Flanke, und schlief, bis es hell wurde. Nun ging er zum letztenmal in die Hütte und hinter die geflochtene Wand, sah zum letztenmal das arme Totengesicht. Es widerstrebte ihm, die Tote da liegenzulassen. Er ging und suchte Arme voll Dürrholz und welkes Gestrüpp zusammen, das warf er in die Hütte, schlug Feuer und zündete an. Aus der Hütte nahm er nichts mit sich als das Feuerzeug. Hellauf brannte im Augenblick die dürre Ginsterwand. Draußen blieb er stehen und schaute zu, das Gesicht vom Feuer geröstet, bis auch das ganze Dach in Flammen stand und die ersten Dachbalken stürzten. Ängstlich und klagend sprang die Ziege. Es wäre richtig gewesen, das Tier zu töten und ein Stück von ihm zu rösten und zu essen, um Kraft für die Wanderschaft zu haben. Aber es war ihm nicht möglich; er trieb die Geiß in die Heide und ging davon. Bis in den Wald hinein folgte ihm der Rauch von der Brandstelle. Nie hatte er eine Wanderung so trostlos angetreten.