Aber wohl gab es Beichtstühle in der Kirche, doch in keinem einen Priester; sie waren gestorben, lagen im Hospital, waren geflohen, fürchteten Ansteckung. Die Kirche war leer, hohl klangen Goldmunds Schritte im Steingewölbe wider. Er kniete vor einem der leeren Beichtstühle nieder, schloß die Augen und flüsterte ins Sprechgitter hinein: »Lieber Gott, sieh, was aus mir geworden ist. Ich komme aus der Welt zurück und bin ein schlechter unnützer Mensch geworden, ich habe meine jungen Jahre vertan wie ein Verschwender, wenig ist übriggeblieben. Ich habe getötet, ich habe gestohlen, ich habe gehurt, ich bin müßig gegangen und habe andern das Brot weggegessen. Lieber Gott, warum hast du uns so geschaffen, warum führst du uns solche Wege? Sind wir nicht deine Kinder? Ist nicht dein Sohn für uns gestorben? Gibt es nicht Heilige und Engel, uns zu leiten? Oder sind das alles hübsche erfundene Geschichten, die man den Kindern erzählt und über die die Pfaffen selber lachen? Ich bin irr an dir geworden, Gottvater, du hast die Welt übel geschaffen, schlecht hältst du sie in Ordnung. Ich habe Häuser und Gassen voll von Toten liegen sehen, ich habe gesehen, wie die Reichen sich in ihren Häusern verschanzt haben oder geflohen sind und wie die Armen ihre Brüder unbegraben haben liegenlassen, wie sie einer den andern verdächtigt und die Juden wie Vieh totgeschlagen haben. Ich habe so viele Unschuldige leiden und untergehen sehen und so viele Böse im Wohlleben schwimmen. Hast du uns denn ganz vergessen und verlassen, ist dir deine Schöpfung ganz entleidet, willst du uns alle zugrunde gehen lassen?«
Seufzend trat er durchs hohe Portal heraus und sah die schweigenden Steinbilder, Engel und Heilige, hager und hoch in ihren starr gefalteten Gewändern stehen, unbewegt, unerreichbar, übermenschlich und doch von Menschenhand und aus Menschengeist geschaffen. Streng und taub standen sie da oben auf ihrem knappen Räume, keiner Bitte und Frage zugänglich, und waren doch ein unendlicher Trost, waren ein triumphierender Sieg über Tod und Verzweiflung, wie sie in ihrer Würde und Schönheit standen und ein hinsterbendes Menschengeschlecht ums andere überdauerten. Ach, daß hier auch die arme schöne Jüdin Rebekka stünde und die arme, mit der Hütte verbrannte Lene und die holde Lydia und Meister Niklaus! Aber sie würden einmal stehen und dauern, er würde sie hinstellen, und ihre Gestalten, die ihm heute Liebe und Qual, Angst und Leidenschaft bedeuteten, würden vor den später Lebenden stehen, ohne Namen und Geschichte, stille, schweigende Sinnbilder des Menschenlebens.
Fünfzehntes Kapitel
Endlich war das Ziel erreicht, und Goldmund betrat die ersehnte Stadt durch dasselbe Tor, durch das er einst, vor so viel Jahren, zum erstenmal geschritten war, um seinen Meister zu suchen. Manche Nachricht aus der Bischofsstadt hatte ihn schon unterwegs im Näherkommen erreicht; er wußte, daß auch dort die Pest gewesen war und vielleicht noch immer herrschte, man hatte ihm von Unruhen und Volksaufständen erzählt und daß ein kaiserlicher Statthalter gekommen sei, um Ordnung zu schaffen, Notgesetze zu geben und Gut und Leben der Bürger zu schützen. Denn der Bischof hatte die Stadt gleich nach dem Ausbruch der Seuche verlassen und residierte fern in einem seiner Schlösser auf dem Lande. An allen diesen Nachrichten hatte der Wanderer wenig teilgenommen. Wenn nur die Stadt noch stand und die Werkstätte, wo er arbeiten wollte! Alles andere war ihm nicht wichtig. Als er ankam, war die Pest erloschen, man erwartete die Rückkehr des Bischofs und freute sich auf den Abzug des Statthalters und die Wiederkehr des gewohnten friedlichen Lebens.
Als Goldmund die Stadt wiedersah, zog ihm eine nie zuvor erlebte Woge von Wiedersehen und Heimatgefühl durchs Herz, und er schnitt ein ungewohnt strenges Gesicht, um sich zu bemeistern. Oh, dies alles war noch da: die Tore, die schönen Brunnen, der alte klotzige Turm der Kathedrale und der schlanke neue der Marienkirche, das helle Geläut von Sankt Lorenz, der große strahlende Marktplatz! O wie gut, daß das alles auf ihn gewartet hatte! Hatte er nicht unterwegs einmal geträumt, daß er hier ankomme und alles fremd und verändert vorfinde, teils zerstört und in Trümmern, teils unkenntlich durch neue Bauten und wunderliche unerfreuchliche Zeichen? Die Tränen waren ihm nahe, während er durch die Gassen ging, Haus um Haus wiedererkennend. Waren am Ende nicht doch die Seßhaften zu beneiden, in ihren hübschen sicheren Häusern, in ihrem befriedeten Bürgerleben, in ihrem beruhigenden und stärkenden Gefühl von Heimathaben, von Zuhausesein in Stube und Werkstatt, zwischen Weib und Kind, Gesinde und Nachbarschaft?
Es war Spätnachmittag, und an der Sonnseite der Gasse standen die Häuser, die Wirts- und Zunftschilder, die geschnitzten Türen und die Blumentöpfe warm bestrahlt, nichts erinnerte daran, daß auch in dieser Stadt der wütende Tod und der irre Angstwahn der Menschen regiert habe. Kühl, hellgrün und hellblau strömte unter den tönenden Gewölben der Brücke der klare Fluß; Goldmund setzte sich eine Weile auf die Brüstung der Ufermauer, noch immer glitten unten im grünen Kristall die dunklen schattenhaften Fische hin oder standen regungslos, die Nasen gegen die Strömung gekehrt, noch immer blinkte aus den Dämmerungen der Tiefe hier und dort jenes schwache Goldleuchten herauf, das soviel verspricht und das Träumen so sehr begünstigt. Auch in anderen Wassern gab es das, und auch andere Brücken und Städte waren hübsch anzuschauen, und doch schien ihm, er habe seit sehr langer Zeit dergleichen nicht mehr gesehen und Ähnliches nicht mehr gefühlt.
Zwei Metzgerburschen trieben lachend ein Kalb vorüber, sie wechselten Blicke und Späße mit einer Magd, die über ihnen in einer Laube Wäsche abnahm. Wie schnell doch alles vorüberging! Vor kurzem noch hatten hier die Pestfeuer gebrannt und die scheußlichen Spittelknechte gewaltet, und jetzt lief das Leben wieder weiter, man lachte und machte Spaße; und ihm selbst ging es nicht anders, da saß er und war entzückt vom Wiedersehen und fühlte sich dankbar und hatte sogar ein Herz für die Seßhaften, als ob es kein Elend und keinen Tod, keine Lene und keine Judenprinzessin gegeben hätte. Lächelnd stand er auf und ging weiter, und erst als er sich der Gasse des Meisters Niklaus näherte und den Weg wieder ging, den er vor Zeiten jahrelang jeden Tag zu seiner Arbeit gegangen war, begann sein Herz beklommen und unruhig zu werden. Er ging schneller, er wollte heut noch beim Meister vorsprechen und Bescheid wissen, es ertrug keinen Aufschub mehr, es hätte ihm ganz unmöglich geschienen, noch bis morgen zu warten. Sollte der Meister ihm etwa noch böse sein? Das war so lange her, es konnte keine Bedeutung mehr haben; und wenn es doch so sein sollte, so würde er es überwinden. Wenn der Meister nur noch da war, er und die Werkstatt, dann war alles gut. Eilig, als ob er noch in letzter Stunde etwas versäumen könnte, schritt er auf das wohlbekannte Haus zu, faßte nach dem Türgriff und erschrak heftig, als er das Tor geschlossen fand. Konnte das Böses bedeuten? Früher war es nie vorgekommen, daß diese Tür am hellen Tag verschlossen gehalten wurde. Dröhnend ließ er den Klopfer fallen und wartete. Es war ihm plötzlich sehr bang ums Herz geworden.
Es kam dieselbe alte Magd, die ihn einst beim ersten Eintritt in dies Haus empfangen hatte. Sie war nicht häßlicher geworden, aber älter und unfreundlicher, und sie erkannte Goldmund nicht. Mit banger Stimme fragte er nach dem Meister. Sie blickte ihn blöde und mißtrauisch an.
»Meister? Es gibt hier keinen Meister. Geht nur weiter, Mann, es wird niemand eingelassen.«
Sie wollte ihn aus dem Tor zurückdrängen, er nahm sie am Arm und sehne auf sie ein: »So rede doch, Margrit, um Gottes willen! Ich bin Goldmund, kennst du mich denn nicht? Ich muß zum Meister Niklaus.«