Aus den weitsichtigen, halb erloschenen Augen schimmerte kein Willkomm.
»Es gibt hier keinen Meister Niklaus mehr«, sagte sie ablehnend, »der ist tot. Machet, daß Ihr weiterkommt, ich kann hier nicht stehen und schwatzen.«
Goldmund, während alles in ihm zusammenstürzte, drückte die Alte beiseite, die schreiend hinter ihm herlief, und eilte durch den dunklen Gang gegen die Werkstatt. Sie war geschlossen. Von der klagenden und schimpfenden Alten gefolgt, lief er die Treppe hinauf, in der Dämmerung sah er im bekannten Räume die Figuren stehen, die Niklaus gesammelt hatte. Mit lauter Stimme rief er nach Jungfer Lisbeth.
Es ging die Stubentür, und es erschien Lisbeth, und als er sie, erst beim zweiten Hinblicken, erkannte, drückte ihm der Anblick das Herz zusammen. War schon alles hier in diesem Hause, seit dem Augenblick, da er zu seinem Schrecken das Tor verschlossen gefunden hatte, gespenstisch und verzaubert und wie in einem beklommenen Traum gewesen, so fuhr ihm jetzt beim Anblick der Lisbeth wirklich ein Schaudern über den Rücken. Aus der schönen stolzen Lisbeth war eine scheue, gebückte Jungfer geworden, mit einem gelben, kränklichen Gesicht, in einem schwarzen schmucklosen Kleid, mit unsicherem Blick und ängstlicher Haltung.
»Verzeihet«, sagte er, »Margrit wollte mich nicht hereinlassen. Kennet Ihr mich nicht? Ich bin doch Goldmund. Ach, sagt mir: ist es denn wahr, daß Euer Vater gestorben ist?« An ihrem Blick sah er, daß sie ihn jetzt erkenne, und sah auch sogleich, daß er hier nicht in gutem Andenken stehe.
»So, Ihr seid Goldmund?« sagte sie, und in der Stimme erkannte er etwas von ihrer früheren hochmütigen Art. »Ihr habet Euch umsonst herbemüht. Mein Vater ist gestorben.«
»Und die Werkstatt?« fuhr es ihm heraus.
»Die Werkstatt? Ist geschlossen. Wenn Ihr Arbeit sucht, müßt Ihr anderswohin gehen.«
Er versuchte, sich zusammenzunehmen.
»Jungfer Lisbeth«, sagte er freundlich, »ich suche keine Arbeit, ich wollte nur Grüßgott sagen, dem Meister und Euch. Es betrübt mich so sehr, daß ich das hören muß! Ich sehe, daß Ihr es schwer gehabt habet. Wenn Euch ein dankbarer Schüler Eures Vaters irgendeinen Dienst tun kann, so sagt es, es wäre mir eine Freude. Ach, Jungfer Lisbeth, es will mir das Herz brechen, daß ich Euch so – so tief im Leid finde.«
Sie zog sich in die Stubentür zurück.
»Danke«, sagte sie zögernd. »Ihr könnet ihm keinen Dienst mehr tun und mir auch nicht. Margrit wird Euch hinausführen.«
Schlecht klang ihre Stimme, halb böse, halb ängstlich. Er spürte: hätte sie Mut gehabt, sie hätte ihn schimpflich hinausgewiesen.
Schon war er unten, schon hatte die Alte das Haustor hinter ihm zugeschlagen und die Riegel gestoßen. Er hörte das harte Anschlagen der beiden Riegel noch, es klang ihm wie das Zuschlagen eines Sargdeckels. Langsam kehrte er zu der Ufermauer zurück und setzte sich wieder an den alten Platz überm Flusse. Die Sonne war untergegangen, kalt zog es vom Wasser herauf, kalt war der Stein, auf dem er saß. Die Ufergasse war still geworden, am Brückenpfeiler rauschte die Strömung auf, dunkel lag die Tiefe, kein Goldschimmer blinkte mehr herauf. Oh, dachte er, daß ich jetzt über die Mauer fiele und im Fluß verschwände! Wieder war die Welt voll von Tod. Eine Stunde verging, und die Dämmerung war Nacht geworden. Endlich konnte er weinen. Er saß und weinte, über die Hände und Knie fielen ihm die warmen Tropfen. Er weinte um den toten Meister, er weinte um die verlorene Schönheit Lisbeths, er weinte um Lene, um Robert, um das Judenmädchen, um seine verwelkte, vergeudete Jugend.
Spät fand er sich in einer Weinschenke ein, wo er einst oft mit Kameraden gezecht hatte. Die Wirtin erkannte ihn, er bat um ein Stück Brot, sie gab es ihm und gab ihm freundlich auch einen Becher Wein. Er brachte weder Brot noch Wein hinunter. Auf einer Bank in der Schenke schlief er die Nacht. Die Wirtin weckte ihn am Morgen, er sagte Dank und ging, unterwegs aß er das Stück Brot.
Er ging zum Fischmarkt, da stand das Haus, in dem er damals seine Kammer gehabt hatte. Neben dem Brunnen hielten ein paar Fischweiber ihre lebende Ware feil, er starrte in die Bottiche zu den schönen schimmernden Tieren hinein. Oft hatte er dies früher gesehen, es fiel ihm wieder ein, daß er oft mit den Fischen Mitleid gehabt hatte und wütend auf die Weiber und Käufer gewesen war. Einstmals, so erinnerte er sich, hatte er sich auch einen Morgen hier so herumgetrieben, hatte die Fische bewundert und bemitleidet und war sehr traurig gewesen, es war viel Zeit seitdem vergangen und viel Wasser den Fluß hinabgeronnen. Er war sehr traurig gewesen, das wußte er noch wohl, aber was es war, worüber er so traurig gewesen war, wußte er nicht mehr. So war es: auch das Traurige verging, auch die Schmerzen und Verzweiflungen vergingen, ebenso wie die Freuden, sie gingen vorüber, verblaßten, verloren ihre Tiefe und ihren Wert, und schließlich kam eine Zeit, da konnte man sich nicht mehr darauf besinnen, was es gewesen war, das einem einmal so weh getan hatte. Auch die Schmerzen verblühten und verwelkten. Würde auch sein heutiger Schmerz einmal verwelken und wertlos sein, seine Verzweiflung darüber, daß der Meister tot und im Groll gegen ihn gestorben war und daß keine Werkstatt ihm offenstand, um das Glück des Schaffens zu kosten und sich die Bilderlast von der Seele zu wälzen? Ja, ohne Zweifel würde auch dieser Schmerz, auch diese bittere Not alt werden und müde werden, auch sie würde er vergessen. Nichts hatte Bestand, auch nicht das Leid.
Indem er auf die Fische starrte und diesen Gedanken hingegeben war, hörte er eine leise Stimme freundlich seinen Namen sagen.
»Goldmund«, rief es schüchtern, und als er hinschaute, stand da ein etwas zartes und kränkliches junges Mädchen, aber mit schönen dunklen Augen, das ihn angerufen hatte. Er kannte es nicht.
»Goldmund! Du bist es doch?« sagte die schüchterne Stimme. »Seit wann bist du wieder in der Stadt? Kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch Marie.«
Aber er kannte sie nicht.
Sie mußte ihm erzählen, daß sie die Tochter seiner einstigen Hauswirte sei und daß sie einst, in jener Morgenfrühe vor seiner Abreise, ihm in der Küche eine Milch gekocht habe. Sie wurde rot, als sie es erzählte. Ja, es war Marie, es war das dürftige Kind mit dem kranken Hüftgelenk, das damals so lieb und schüchtern für ihn gesorgt hatte. Er wußte nun alles wieder: sie hatte am kühlen Morgen auf ihn gewartet und war so traurig über seine Abreise gewesen, sie hatte ihm Milch gekocht, und er hatte ihr einen Kuß gegeben, den hatte sie so still und feierlich empfangen wie ein Sakrament. Nie mehr hatte er an sie gedacht. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie groß geworden und hatte sehr schöne Augen, aber sie hinkte noch immer und sah etwas verkümmert aus. Er gab ihr die Hand. Es freute ihn, daß doch jemand in dieser Stadt ihn noch kannte und liebhatte.
Marie nahm ihn mit, er wehrte sich nur schwach. Bei ihren Eltern in der Stube, wo sein Bild noch hing und sein rotes Rubinglas überm Kamin auf dem Bord stand, mußte er zu Mittag essen und wurde eingeladen, ein paar Tage dazubleiben, man freue sich, ihn einmal wiederzusehen. Hier erfuhr er auch, was im Haus seines Meisters geschehen war. Niklaus war nicht an der Pest gestorben, sondern die schöne Lisbeth war es, die die Pest bekam, sie lag todkrank, und ihr Vater pflegte sich an ihr zu Tode, er starb, noch eh sie ganz genesen war. Sie wurde gerettet, nur aber war ihre Schönheit dahin.
»Die Werkstatt steht leer«, sagte der Hausherr, »und für einen tüchtigen Bildschnitzer wäre da eine schöne Heimat bereit und Geld genug. Überleg dir das, Goldmund! Sie würde nicht nein sagen. Sie hat keine Wahl mehr.«
Er erfuhr auch dies und jenes andere aus der Pestzeit, daß der Pöbel zuerst ein Spital angezündet und später einige Häuser von Reichen erstürmt und geplündert habe, eine Weile sei keine Ordnung und Sicherheit mehr in der Stadt gewesen, da der Bischof geflohen sei. Da habe der Kaiser, der gerade in der Nähe war, einen Statthalter hergeschickt, den Grafen Heinrich. Nun ja, es sei ein schneidiger Herr, er habe mit seinen paar Reitern und Soldaten Ordnung in der Stadt geschafft. Aber nun sei es wohl Zeit, daß sein Regiment aufhöre, man erwarte den Bischof zurück. Der Graf habe der Bürgerschaft manches zugemutet, und auch von seiner Kebse habe man genug, der Agnes, die sei schon ein richtiger Teufelsbraten. Na, bald werden sie abziehen, der Gemeinderat habe es längst satt, statt seines guten Bischofs so einen Hof- und Kriegsmann auf dem Halse zu haben, der des Kaisers Günstling sei und beständig Gesandtschaften und Abordnungen empfange wie ein Fürst.