»Oh«, sagte er, »Marie, bist denn du noch auf?«
»Ich bin auf«, sagte sie. »Sonst hättest du das Haus verschlossen gefunden.«
»Es tut mir leid, Marie, daß du gewartet hast. Es ist so spät geworden. Sei mir nicht böse.«
»Ich bin dir nie böse, Goldmund. Ich bin nur ein wenig traurig.«
»Traurig sollst du nicht sein. Warum denn traurig?«
»Ach, Goldmund, ich möchte wohl, daß ich gesund und schön und stark wäre. Dann müßtest du nicht in der Nacht in fremde Häuser gehen und andere Frauen liebhaben. Dann würdest du wohl auch einmal bei mir bleiben und mit mir ein wenig lieb sein.«
Keine Hoffnung klang in ihrer sanften Stimme, und keine Bitterkeit, nur Trauer. Verlegen stand er bei ihr, sie tat ihm so leid, er wußte nichts zu sagen. Mit vorsichtiger Hand faßte er nach ihrem Kopf und streichelte ihr Haar, und sie stand und hielt still, fühlte schauernd seine Hand auf ihrem Haar, weinte ein wenig, richtete sich wieder auf und sagte schüchtern:
»Geh nun zu Bett, Goldmund. Ich habe dummes Zeug gesprochen, ich war so schläfrig. Gute Nacht.«
Sechzehntes Kapitel
Einen Tag voll glücklicher Ungeduld brachte Goldmund auf den Hügeln zu. Hätte er ein Pferd gehabt, so wäre er heut ins Kloster zu der schönen Madonna seines Meisters geritten; es verlangte ihn, sie noch einmal zu sehen, auch schien ihm, er habe nachts vom Meister Niklaus geträumt. Nun, er würde es nachholen. Sollte auch dies Liebesglück mit Agnes vielleicht von kurzer Dauer sein, vielleicht zu Bösem führen – heut stand es in Blüte, er durfte nichts davon versäumen. Er wollte heute keine Menschen sehen und nicht zerstreut sein, er wollte den sanften Herbsttag draußen verbringen, unter den Bäumen und Wolken. Er sagte es Marie, daß er einen Gang über Land im Sinn habe und wohl erst spät zurückkommen werde, sie möge ihm ein tüchtiges Stück Brot mitgeben, und am Abend möge sie doch nicht seinetwegen warten. Sie sagte nichts dazu, sie steckte ihm die Tasche voll Brot und Äpfeln, fuhr mit der Bürste über seinen alten Rock, dessen Schäden sie gleich am ersten Tage geflickt hatte, und ließ ihn ziehen.
Er spazierte über den Fluß und durch die leeren Weinberge auf steilen Treppenwegen hügelan, verlor sich oben im Walde und hörte nicht auf zu steigen, bis er den letzten Höhenkranz erreicht hatte. Da schien die Sonne lau durch das Gestänge der kahlen Bäume, Amseln flohen vor seinen Schritten ins Gebüsch, saßen scheu geduckt und schauten aus schwarzblanken Augen aus dem Dickicht, und weit unten in blauem Bogen floß der Strom und lag die Stadt klein wie Spielzeug hingebaut, von dort war kein Ton mehr zu hören als die Geläute zu den Betzeiten. Hier oben gab es kleine grasbewachsene Wälle und Hügel aus alter heidnischer Zeit, vielleicht Befestigungen, vielleicht Gräber. Auf einem dieser Hügel ließ er sich nieder, hier saß man trocken im knisternden Herbstgras und übersah das ganze weite Tal und jenseits des Flusses die Hügel und Berge, Kette hinter Kette, bis wo Gebirg und Himmel in bläulichem Spiel sich begegneten und nicht mehr zu unterscheiden waren. All dies weite Land und viel weiter noch, als ein Auge sehen konnte, hatten seine Füße durchwandert; alle diese Gegenden, die jetzt Ferne und Erinnerung waren, waren einmal Nähe und Gegenwart gewesen. In diesen Wäldern hatte er hundertmal geschlafen, hatte Beeren gegessen, hatte gehungert und gefroren, über diese Bergkämme und Heidestriche war er gewandert, war froh und traurig, war frisch und war müde gewesen. Irgendwo in dieser Ferne, jenseits des Sichtbaren, lagen die verbrannten Knochen der guten Lene, dort irgendwo mochte sein Kamerad Robert noch immer auf Wanderung sein, wenn nicht die Pest ihn geholt hatte; da draußen irgendwo lag der tote Viktor, und irgendwo auch, weit und verzaubert, lag das Kloster seiner Jugendjahre, stand die Burg des Ritters mit den schönen Töchtern, lief arm und gehetzt die arme Rebekka oder war umgekommen. Alle diese vielen, weit zerstreuten Orte, diese Heiden und Wälder, diese Städte und Dörfer, Burgen und Klöster, alle diese Menschen, sie mochten leben oder tot sein, wußte er in sich innen vorhanden und miteinander verbunden, in seiner Erinnerung, in seiner Liebe, seiner Reue, seiner Sehnsucht. Und wenn morgen auch ihn der Tod holte, dann würde das alles wieder auseinanderfallen und auslöschen, dies ganze Bilderbuch, so voll von Frauen und Liebe, von Sommermorgen und Winternächten. Oh, es war an der Zeit, noch etwas zu tun, noch etwas zu schaffen und hinter sich zu lassen, das ihn überdaure.
Von diesem Leben, von diesen Wanderungen, von allen diesen Jahren seit seinem Auszug in die Welt war bis heute wenig Frucht übriggeblieben. Übriggeblieben waren die paar Figuren, die er einst in der Werkstatt gemacht hatte, namentlich der Johannes, und dann noch dies Bilderbuch, diese unwirkliche Welt in seinem Kopfe drin, diese schöne und schmerzliche Bilderwelt der Erinnerungen. Würde es ihm gelingen, einiges von dieser inneren Welt zu retten und nach außen zu stellen? Oder würde es nur immer so weitergehen: immer neue Städte, neue Landschaften, neue Frauen, neue Erlebnisse, neue Bilder, eins aufs andere gehäuft, von denen er nichts davontrug, als diese unruhige, ebenso quälende wie schöne Uberfülltheit des Herzens?
Es war ja schmählich, wie man vom Leben genarrt wurde, es war zum Lachen und zum Weinen! Entweder lebte man, ließ seine Sinne spielen, sog sich voll an der Brust der alten Eva-Mutter – dann gab es zwar manche hohe Lust, aber keinen Schutz gegen die Vergänglichkeit; man war dann wie ein Pilz im Walde, der heut in schönen Farben strotzt und morgen verfault ist. Oder man setzte sich zur Wehr, man sperrte sich in eine Werkstatt ein und suchte dem flüchtigen Leben ein Denkmal zu bauen – dann mußte man auf das Leben verzichten, dann war man bloß noch Werkzeug, dann stand man zwar im Dienst des Unvergänglichen, aber man dorrte dabei ein und verlor die Freiheit, Fülle und Lust des Lebens. So war es dem Meister Niklaus ergangen.
Ach, und es hatte dies ganze Leben doch nur dann einen Sinn, wenn beides sich erringen ließ, wenn das Leben nicht durch dies dürre Entweder-Oder gespalten war! Schaffen, ohne dafür den Preis des Lebens zu bezahlen! Leben, ohne doch auf den Adel des Schöpfertums zu verzichten! War denn das nicht möglich?
Vielleicht gab es Menschen, denen es möglich war. Vielleicht gab es Ehemänner und Familienväter, denen über der Treue nicht die Sinnenlust verlorenging? Vielleicht gab es Seßhafte, denen der Mangel an Freiheit und an Gefahr das Herz nicht eindorren ließ? Vielleicht. Gesehen hatte er noch keinen.
Es schien alles Dasein auf der Zweiheit, auf den Gegensätzen zu beruhen; man war entweder Frau oder Mann, entweder Landfahrer oder Spießbürger, entweder verständig oder gefühlig – nirgends war Einatmen und Ausatmen, Mannsein und Weibsein, Freiheit und Ordnung, Trieb und Geist gleichzeitig zu erleben, immer mußte man das eine mit dem Verlust des anderen bezahlen, und immer war das eine so wichtig und begehrenswert wie das andere! Die Frauen hatten es hierin vielleicht leichter. Bei ihnen hatte die Natur es so geschaffen, daß von selbst die Lust ihre Frucht trug und aus dem Liebesglück das Kind wurde. Beim Manne war statt dieser einfachen Fruchtbarkeit die ewige Sehnsucht da. War der Gott, der alles so geschaffen hatte, denn böse oder feindselig, lachte er schadenfroh über seine eigene Schöpfung? Nein, er konnte nicht böse sein, wenn er die Rehe und Hirsche, die Fische und Vögel, den Wald, die Blumen, die Jahreszeiten geschaffen hatte. Aber der Riß ging durch seine Schöpfung, sei es nun, daß sie mißglückt und unvollkommen war, sei es, daß Gott eben mit dieser Lücke und Sehnsucht des Menschendaseins besondere Absichten haben mochte, sei es, daß dies der Same des Feindes war, die Erbsünde? Aber warum denn sollte diese Sehnsucht und Ungenüge Sünde sein? Entstand nicht aus ihr alles Schöne und Heilige, was der Mensch geschaffen hatte und Gott als Dankesopfer zurückgab?