Von seinen Gedanken bedrückt, richtete er den Blick auf die Stadt, erspähte Markt und Fischmarkt, die Brücken, die Kirchen, das Rathaus. Und da war auch das Schloß, der stolze Bischofspalast, in dem jetzt der Graf Heinrich regierte. Unter diesen Türmen und langen Dächern wohnte Agnes, wohnte seine schöne königliche Geliebte, die so hochmütig aussah und in der Liebe sich doch so sehr vergessen und hingeben konnte. Freudig dachte er an sie, freudig und dankbar erinnerte er sich der vergangenen Nacht. Um das Glück dieser Nacht erleben, um diese wunderbare Frau so beglücken zu können, dazu hatte es seines ganzen Lebens bedurft, all der Schulung durch Frauen, all der Wanderschaft und Not, all der durchwanderten Schneenächte und all der Freundschaft und Vertrautheit mit Tieren, Blumen, Bäumen, Wassern, Fischen, Schmetterlingen. Es bedurfte dazu der in Wollust und in Gefahr geschärften Sinne, der Heimatlosigkeit, der ganzen in vielen Jahren gehäuften Bilderwelt im Innern. Solange sein Leben ein Garten war, in dem solche Zauberblumen wie Agnes blühten, durfte er nicht klagen.
Den ganzen Tag brachte er auf den herbstlichen Höhen zu, wandernd, rastend, Brot essend, an Agnes und den Abend denkend. Um die Zeit des Zunachtens war er wieder in der Stadt und näherte sich dem Schloß. Es war kühl geworden, und die Häuser blickten aus stillen roten Fensteraugen, es begegnete ihm ein kleiner Zug von singenden Knaben, die trugen auf Stäben ausgehöhlte Rüben über sich, in welche Gesichter geschnitzt und brennende Kerzen gesteckt waren. Der kleine Mummenschanz brachte einen Duft von Winter mit sich, lächelnd sah Goldmund ihm nach. Lange Zeit trieb er sich vor dem Schloß herum. Noch immer war die Pfaffengesandtschaft da, hier und dort sah man in einem Fenster einen der geistlichen Herren stehen. Endlich gelang es ihm, sich ins Innere zu schleichen und die Zofe Berta zu finden. Wieder wurde er in der Kleiderkammer verborgen, bis Agnes erschien und ihn zärtlich in ihr Zimmer führte. Zärtlich empfing ihn ihr schönes Gesicht, zärtlich, aber gar nicht froh; sie war traurig, sie machte sich Sorgen, sie war ängstlich. Er mußte sich viel Mühe geben, sie ein wenig zu erheitern. Langsam gewann sie unter seinen Küssen und Liebesworten etwas Zuversicht.
»Du kannst so sehr lieb sein«, sagte sie dankbar. »Du hast so tiefe Töne in deiner Kehle, mein Vogel, wenn du zärtlich bist und gurrst und schwatzest. Ich hab dich lieb, Goldmund. Wenn wir doch weit von hier wären! Es gefällt mir nicht mehr hier, es wird ja ohnehin bald zu Ende sein, der Graf ist abberufen, bald soll der dumme Bischof zurückommen. Der Graf ist heut böse, die Pfaffen haben ihn geplagt. Ach du, daß er dich nicht zu sehen bekommt! Du würdest keine Stunde mehr leben. Es ist mir so bange um dich.«
In seiner Erinnerung stiegen halbverlorene Klänge auf – hatte er nicht dies Lied schon vor Zeiten einmal gehört? So hatte einst Lydia zu ihm gesprochen, so liebend und angstvoll, so zärtlich-traurig. So war sie nachts in seine Kammer gekommen, voll Liebe und voll Angst, voll Sorgen, voll von schrecklichen Bildern der Furcht. Er hörte es gerne, das zärtlich-ängstliche Lied. Was wäre Liebe ohne Heimlichkeit! Was wäre Liebe ohne Gefahr!
Sanft zog er Agnes an sich, streichelte sie, hielt ihre Hand, summte ihr leise Werbungen ins Ohr, küßte ihre Augenbrauen. Es rührte und entzückte ihn, sie seinetwegen so angstvoll und besorgt zu finden. Dankbar empfing sie seine Liebkosungen, beinahe demütig, sie drängte sich voll Liebe an ihn, aber heiter wurde sie nicht.
Und plötzlich zuckte sie heftig zusammen, man hörte in der Nähe eine Tür zuschlagen, und rasche Schritte näherten sich dem Zimmer.
»Um Gottes willen, er ist es!« rief sie verzweifelt, »es ist der Graf. Schnell, durch die Kammer kannst du entkommen. Schnell! Verrate mich nicht!«
Schon hatte sie ihn in die Kleiderkammer gedrängt, allein stand er und tappte zögernd im Finstern. Drüben hörte er den Grafen laut mit Agnes sprechen. Er tastete sich zwischen den Kleidern hindurch zur Ausgangstür, lautlos setzte er Fuß vor Fuß. Nun war er bei der Türe, die zum Korridor führte, und suchte sie leise zu öffnen. Und in diesem Augenblick erst, als er die Tür von außen verschlossen fand, erschrak auch er, und sein Herz begann wild und schmerzhaft zu schlagen. Es konnte ein unglücklicher Zufall sein, daß jemand, seit er hier hereingekommen war, diese Tür verschlossen hatte. Er glaubte aber nicht daran. Er war in eine Falle gegangen, er war verloren; irgend jemand mußte ihn gesehen haben, als er hier hereinschlich. Es würde ihm den Hals kosten. Zitternd stand er im Finstern, und sogleich fiel Agnesens Abschiedswort ihm ein: »Verrate mich nicht!« Nein, er würde sie nicht verraten. Sein Herz hämmerte, aber der Entschluß machte ihn fest, trotzig biß er die Zähne zusammen.
Dies war alles in wenigen Augenblicken geschehen. Jetzt ging jenseits die Tür, und aus Agnesens Zimmer trat der Graf herein, mit einem Leuchter in der Linken und dem gezogenen Schwert in der Rechten. Im selben Augenblick raffte Goldmund mit hastigem Griff einige von den rings um ihn hängenden Kleidern und Mänteln zusammen und nahm sie über den Arm. Man sollte ihn für einen Dieb halten, vielleicht war dies ein Ausweg.
Der Graf hatte ihn sofort gesehen. Langsam kam er heran. »Wer ist man? Was tut man hier? Antwort, oder ich stoße zu.«
»Verzeihet«, flüsterte Goldmund, »ich bin ein armer Mann, und Ihr seid so reich! Ich gebe alles zurück, Herr, was ich genommen habe, seht!«
Und er legte die Mäntel an den Boden.
»So, also gestohlen hast du? Es war nicht klug von dir, für einen alten Mantel dein Leben zu wagen. Bist du ein Stadtbürger?«
»Nein, Herr, ich bin heimatlos. Ich bin ein armer Mann, Ihr werdet Nachsicht haben –«
»Hör auf! Ich möchte wohl wissen, ob du am Ende so frech warst, die gnädige Frau belästigen zu wollen. Aber da du ohnehin gehängt wirst, brauchen wir das nicht zu untersuchen. Der Diebstahl genügt.«
Er klopfte heftig gegen die geschlossene Tür und rief: »Seid ihr da? Aufmachen!«
Die Tür wurde von außen geöffnet, drei Knechte standen mit gezogenen Klingen bereit.
»Bindet ihn gut«, rief der Graf mit einer Stimme, die vor Hohn und Hochmut knarrte. »Es ist ein Landstreicher, der hier gestohlen hat. Setzt ihn fest, und morgen früh hängt den Schelm an den Galgen.«
Es wurden Goldmund, ohne daß er sich wehrte, die Hände zusammengeschnürt. So wurde er abgeführt, durch den langen Gang, die Treppen hinab über den inneren Hof, ein Diener trug ein Windlicht voraus. Vor einem runden eisenbeschlagenen Kellertor blieben sie stehen, es wurde verhandelt und gescholten, es fehlte der Schlüssel zum Tor, ein Knecht nahm das Windlicht, der Diener lief zurück, nach dem Schlüssel. So standen sie, die drei Bewaffneten und der Gebundene, und warteten vor dem Tor. Der mit dem Licht zündete dem Gefangenen neugierig ins Gesicht. In diesem Augenblick kamen zwei von den Priestern vorüber, deren so viele im Schloß zu Gast waren, sie kamen von der Schloßkapelle her und blieben vor der Gruppe stehen, beide sahen sich die nächtliche Szene aufmerksam an: die drei Knechte, den gebundenen Mann, wie sie dastanden und warteten. Goldmund bemerkte weder die Priester, noch sah er seine Wächter an. Er konnte nichts sehen als das leise flackernde Licht, das dicht vor sein Gesicht gehalten wurde und ihm in die Augen blendete. Und hinter dem Licht in einer Dämmerung voll Grauen sah er noch etwas, etwas Gestaltloses, Großes, Gespenstisches: den Abgrund, das Ende, den Tod. Mit starren Augen stand er, nichts sehend und hörend. Einer der Priester flüsterte angelegentlich mit den Knechten. Als er hörte, daß der Mann sterben müsse und ein Dieb sei, fragte er, ob er einen Beichtvater gehabt habe. Nein, hieß es, er sei auf frischer Tat festgenommen.
»So werde ich«, sagte der Priester, »am Morgen vor der Frühmesse mit den heiligen Sakramenten zu ihm kommen und seine Beichte hören. Ihr stehet mir dafür, daß er nicht vorher abgeführt wird. Mit dem Herrn Grafen spreche ich noch heut. Der Mann mag ein Dieb sein, er hat doch das Recht jedes Christen auf den Beichtvater und die Sakramente.«