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Die Knechte wagten keinen Widerspruch. Sie kannten den geistlichen Herrn, er gehörte zu den Herren von der Gesandtschaft, sie hatten ihn mehrmals an des Grafen Tisch speisen sehen. Und warum auch sollte man dem armen Vagabunden die Beichte nicht gönnen? Die Herren gingen davon. Goldmund stand und starrte. Endlich kam der Diener mit dem Schlüssel und schloß auf. Der Gefangene wurde in ein Kellergewölbe geführt, stolpernd taumelte er die paar Stufen hinab. Ein paar dreibeinige Stühle ohne Lehne standen hier herum und ein Tisch, es war der Vorraum eines Weinkellers. Sie rückten ihm ein Stühlchen an den Tisch und hießen ihn sitzen.

»Es kommt morgen in der Frühe ein Pfaff, da kannst du noch beichten«, sagte ihm einer von den Knechten. Dann gingen sie und verschlossen das schwere Tor mit Sorgfalt.

»Laß mir das Licht da, Kamerad«, bat Goldmund.

»Nein, Brüderchen, damit könntest du Unfug anrichten. Es wird auch so gehen. Sei gescheit und schick dich drein. Und wie lang brennt denn so ein Licht? In einer Stunde wär es doch aus. Gut Nacht.«

Nun war er im Finstern allein, saß auf dem Stühlchen und legte den Kopf auf den Tisch. Es war schlecht so zu sitzen, und die Einschnürungen an seinen Handgelenken taten weh, doch drangen diese Empfindungen erst spät in sein Bewußtsein. Vorerst saß er nur und legte den Kopf auf den Tisch wie auf einen Richtblock, es trieb ihn ein Drang, auch mit Leib und Sinnen das zu tun, was jetzt seinem Herzen auferlegt war: sich hinzugeben in das Unentrinnbare, sich zu ergeben in das Sterbenmüssen.

Eine Ewigkeit lang blieb er so sitzen, jammervoll hingebogen, und versuchte, das Auferlegte auf sich zu nehmen, es einzuatmen, es einzusehen und sich mit ihm zu erfüllen. Es war jetzt Abend, es begann die Nacht, und das Ende dieser Nacht wird auch ihm das Ende bringen. Das mußte er versuchen zu begreifen. Er wird morgen nicht mehr leben. Er wird hängen, er wird ein Ding sein, auf das die Vögel sich setzen und an dem sie picken, er wird das sein, was der Meister Niklaus war, was die Lene in der verbrannten Hütte war, was alle jene waren, die er in den leergestorbenen Häusern und auf den vollgestopften Leichenkarren hatte hegen sehen. Es war nicht leicht, es einzusehen und sich davon erfüllen zu lassen. Es war geradezu unmöglich, es einzusehen. Es war allzu vieles, wovon er sich noch nicht getrennt hatte, wovon er noch nicht Abschied genommen hatte. Die Stunden dieser Nacht waren ihm gegeben, um es zu tun.

Er mußte Abschied nehmen von der schönen Agnes, nie mehr würde er ihre große Gestalt, ihr lichtes sonniges Haar, ihre kühlen blauen Augen sehen, nie das Schwachwerden und Zittern des Hochmuts in diesen Augen, nie mehr den süßen Goldflaum auf ihrer duftenden Haut. Lebt wohl, blaue Augen, leb wohl, feuchter zuckender Mund! Oft noch hatte er ihn zu küssen gehofft. Oh, noch heut auf den Hügeln, in der Spätherbstsonne, wie hatte er ihrer gedacht, ihr angehört, sich nach ihr gesehnt! Aber Abschied nehmen mußte er auch von den Hügeln, von der Sonne, vom blauen weißgewölkten Himmel, Abschied von den Bäumen und Wäldern, von der Wanderschaft, von den Tageszeiten und Jahreszeiten. Nun saß vielleicht Marie noch auf, die arme Marie mit den guten liebenden Augen und dem hinkenden Gang, saß und wartete, schlief in ihrer Küche ein und wachte wieder auf, und kein Goldmund kam mehr nach Hause.

Ach, und das Papier und der Zeichenstift, und die Hoffnung auf alle die Figuren, die er noch hatte machen wollen! Dahin, dahin! Und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Narziß, mit dem lieben Jünger Johannes, auch sie mußte er hingeben.

Und Abschied nehmen mußte er von seinen eigenen Händen, von seinen eigenen Augen, von Hunger und Durst, Speise und Trank, von der Liebe, vom Lautenspielen, vom Schlafen und Erwachen, von allem. Morgen flog ein Vogel durch die Luft, und Goldmund sah ihn nicht mehr, es sang ein Mädchen am Fenster, und er hörte es nicht mehr singen, es lief der Strom und schwammen stumm die dunkeln Fische, es ging ein Wind und fegte das gelbe Laub am Boden, es schien eine Sonne und ein Sternenhimmel, es zogen junge Leute zum Tanzplatz, es lag ein erster Schnee auf den fernen Bergen – und alles ging weiter, alle Bäume legten ihre Schatten neben sich, alle Menschen blickten froh oder traurig aus ihren lebendigen Augen, die Hunde bellten, die Kühe brüllten in den Ställen der Dörfer, und alles ohne ihn, alles gehörte ihm nicht mehr, von allem war er weggerissen. Er roch den Morgengeruch der Heide, er schmeckte den süßen jungen Wein und die jungen festen Walnüsse, es flog eine Erinnerung, ein aufleuchtender Widerschein der ganzen farbigen Welt durch sein bedrängtes Herz, untersinkend und Abschied nehmend glänzte das ganze schöne wirre Leben noch einmal durch alle seine Sinne, und er zog sich in ausbrechendem Weh zusammen und fühlte Träne um Träne aus seinen Augen rinnen. Aufschluchzend gab er sich der Woge hin, heftig flossen seine Tränen, zusammenstürzend gab er sich dem unendlichen Weh anheim. Oh, ihr Täler und waldigen Berge, ihr Bäche im grünen Erlengehölz, ihr Mädchen, ihr Mondabende auf den Brücken, o du schöne strahlende Bilderwelt, wie soll ich dich lassen! Weinend lag er über dem Tisch, ein trostloses Kind. Aus der Not seines Herzens stieg ein Seufzer und flehender Klageruf: »O Mutter, o Mutter!«

Und indem er den Zaubernamen sprach, antwortete ihm ein Bild aus der Tiefe seiner Erinnerungen, das Bild der Mutter. Es war nicht die Muttergestalt seiner Gedanken und Künstlerträume, es war das Bild seiner eigenen Mutter, schön und lebendig, wie er es seit den Klosterzelten nie mehr gesehen hatte. An sie richtete er seine Klage, ihr weinte er dies unerträgliche Leid des Sterbenmüssens entgegen, ihr gab er sich anheim, ihr gab er den Wald, die Sonne, die Augen, die Hände, ihr gab er sein ganzes Wesen und Leben zurück, in die mütterlichen Hände.

Mitten in seinen Tränen schlief er ein; mütterlich nahm ihn Erschöpfung und Schlaf in die Arme. Eine Stunde schlief er, oder zwei, und war dem Elend entrückt.

Wieder erwacht, empfand er heftige Schmerzen. Peinlich brannten die zerschnürten Handgelenke, zerrende Schmerzen zogen durch Rücken und Nacken. Mit Mühe richtete er sich auf, kam zu sich und erkannte seine Lage wieder. Es war vollkommen schwarze Finsternis um ihn her, er wußte nicht, wie lang er geschlafen habe, er wußte nicht, wieviel Stunden ihm noch zu leben blieben. Vielleicht schon im nächsten Augenblick kamen sie und holten ihn fort, zum Sterben. Da erinnerte er sich, daß ihm ein Priester versprochen worden war. Er glaubte nicht, daß dessen Sakramente ihm viel würden nützen können. Er wußte nicht, ob auch die vollkommenste Lossprechung und Sündenvergebung ihn in den Himmel bringen könne. Er wußte nicht, ob es einen Himmel gebe, und einen Gottvater, und ein Gericht und eine Ewigkeit. Er hatte in diesen Dingen seit langem jede Gewißheit verloren.

Aber ob es nun eine Ewigkeit geben mochte oder nicht: er begehrte sie nicht, er wollte nichts als dies unsichere, vergängliche Leben, dieses Atmen, dieses Zuhausesein in seiner Haut, er wollte nichts als leben. Rasend richtete er sich auf, tappte schwankend im Dunkeln bis zur Mauer, lehnte sich aufrecht an die Wand und begann nachzudenken. Es mußte doch eine Rettung geben! Vielleicht war der Priester die Rettung, war vielleicht von seiner Unschuld zu überzeugen, legte ein Wort für ihn ein oder verhalf ihm zu Aufschub oder Flucht? Heftig vertiefte er sich in diese Gedanken, immer wieder. Und wenn es damit nichts war, so wollte er es doch nicht aufgeben, das Spiel durfte noch nicht verloren sein. Er würde also zuerst versuchen, den Priester für sich zu gewinnen, er würde sich die äußerste Mühe geben, ihn zu bezaubern, ihn warm zu bekommen, ihn zu überzeugen, ihm zu schmeicheln. Der Priester war die einzige gute Karte in seinem Spiel, alle andern Möglichkeiten waren Träume. Immerhin, es gab Zufälle und Fügungen; der Henker konnte eine Kolik bekommen, der Galgen konnte brechen, es konnte sich eine vorher nicht auszudenkende Fluchtmöglichkeit einstellen. Auf alle Fälle weigerte Goldmund sich zu sterben; er hatte vergeblich versucht, dies Schicksal in sich einzulassen und aufzunehmen, es war ihm nicht gelungen. Er würde sich zur Wehr setzen und bis aufs äußerste kämpfen, er würde dem Wächter ein Bein stellen, er würde den Henker niederrennen, er würde sich bis zum letzten Augenblick mit jedem Blutstropfen um sein Leben wehren. – Oh, wenn er doch den Pfaffen dazu bringen könnte, daß er ihm die Hände losbände! Unendlich viel wäre dann gewonnen.