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»Nenne mich so, Lieber. Und willst du mir nicht die Hand geben?«

Wieder zwang sich Goldmund. Mit einem knabentrotzigen und leicht spöttischen Ton, ganz wie manchmal in den Schülerzeiten, brachte er seine Antwort heraus.

»Entschuldige, Narziß«, sagte er kühl und ein wenig blasiert. »Ich sehe, du bist Abt geworden. Ich aber bin noch immer ein Landstreicher. Und außerdem wird unsere Unterhaltung, so erwünscht sie mir ist, leider nicht lange dauern dürfen. Denn schau, Narziß, ich bin zum Galgen verurteilt, und in einer Stunde, oder früher, werde ich wohl gehängt sein. Ich sage es nur, um dir die Situation klarzumachen.«

Narziß verzog keine Miene. Das bißchen Knaben- und Renommistentum in des Freundes Haltung machte ihm großen Spaß und rührte ihn zugleich. Der Stolz aber, der dahinterstand und der es Goldmund verbot, ihm weinend an die Brust zu sinken, den verstand und billigte er zuinnerst. Wahrlich, auch er hatte sich das Wiedersehen anders vorgestellt, aber er war mit dieser kleinen Komödie innig einverstanden. Mit nichts hätte Goldmund sich rascher wieder in sein Herz schmeicheln können.

»Nun ja«, sagte er und spielte ebenfalls den Gleichmütigen. »Übrigens kann ich dich wegen des Galgens beruhigen. Du bist begnadigt. Ich habe Auftrag, dir das mitzuteilen und dich mitzunehmen. Denn hier in der Stadt darfst du nicht bleiben. Wir werden also Zeit genug haben, einander dies und jenes zu erzählen. Aber wie ist das nun: willst du mir jetzt die Hand geben?«

Sie gaben sich die Hände und hielten sie lange fest und drückten sie und fühlten sich tief bewegt, in ihren Worten aber dauerte die Sprödigkeit und Komödie noch eine ganze Weile an.

»Gut, Narziß, so werden wir also dieses wenig ehrbare Obdach verlassen, und ich werde mich deinem Gefolge anschließen. Reisest du nach Mariabronn zurück? Ja? Sehr schön. Und wie? Zu Pferde? Ausgezeichnet. Es wird sich also darum handeln, auch für mich ein Pferd zu bekommen.«

»Wir werden es bekommen, amice, und werden schon in zwei Stunden reisen. Oh, aber wie sehen deine Hände aus! Um Gottes willen, alles zerschunden und verschwollen und voller Blut! O Goldmund, wie ist man mit dir umgegangen!«

»Laß gut sein, Narziß. Ich habe mir selbst die Hände so zugerichtet. Ich war ja gebunden und mußte mich befreien. Ich sage dir, es ging nicht leicht. Übrigens war es recht mutig von dir, daß du so ohne Geleit zu mir hereingekommen bist.«

»Warum mutig? Es war ja keine Gefahr.«

»Oh, es war nur die kleine Gefahr, von mir erschlagen zu werden. Nämlich so hatte ich mir die Sache ausgedacht. Es war mir gesagt worden, daß ein Priester komme. Den hätte ich dann umgebracht und wäre in seinen Kleidern geflohen. Ein guter Plan.«

»Du wolltest also nicht sterben? Du wolltest dich dagegen wehren?«

»Gewiß wollte ich das. Daß gerade du der Priester sein würdest, nun, das konnte ich ja freilich nicht ahnen.«

»Immerhin«, sagte Narziß zögernd, »es war eigentlich ein recht häßlicher Plan. Hättest du wohl wirklich einen Priester, der als Beichtvater zu dir kam, totschlagen können?«

»Dich nicht, Narziß, natürlich nicht, und vielleicht auch keinen von deinen Patres, wenn er die Mariabronner Kutte trug. Aber einen beliebigen anderen Priester, o ja, verlaß dich drauf.«

Plötzlich wurde seine Stimme traurig und dunkel. »Es wäre nicht der erste Mensch gewesen, den ich umgebracht hätte.«

Sie schwiegen. Es war beiden peinlich zumute.

»Also über diese Sachen«, sagte Narziß mit kühler Stimme, »sprechen wir ja später. Du kannst mir einmal beichten, wenn du magst. Oder du kannst mir sonst von deinem Leben erzählen. Auch ich habe dir dies und das zu erzählen. Ich freue mich darauf. – Wollen wir gehen?«

»Noch einen Augenblick, Narziß! Etwas ist mir eingefallen, nämlich, daß ich dich doch schon einmal Johannes genannt habe.« »Ich verstehe dich nicht.«

»Nein, natürlich nicht. Du weißt ja noch nichts. Es ist schon vor manchen Jahren gewesen, da habe ich dir einmal den Namen Johannes gegeben, und er wird dir für immer bleiben. Ich bin nämlich früher ein Bildhauer und Figurenschnitzer gewesen, und ich denke es wieder zu werden. Und die beste Figur, die ich damals gemacht habe, ein Jüngling aus Holz, in natürlicher Größe, die ist dein Bildnis, aber sie heißt nicht Narziß, sondern Johannes. Es ist ein Jünger Johannes unter dem Kreuz.«

Er stand auf und ging gegen die Tür.

»Du hast also noch an mich gedacht?« fragte Narziß leise.

Ebenso leise gab Goldmund Antwort: »O ja, Narziß, ich habe an dich gedacht. Immer, immer.«

Heftig stieß er das schwere Tor auf, der fahle Morgen blickte herein. Sie sprachen nichts mehr. Narziß nahm ihn mit sich in sein Gastzimmer. Ein junger Mönch, sein Begleiter, war dort damit beschäftigt, das Reisegepäck fertigzumachen. Goldmund bekam zu essen, seine Hände wurden gewaschen und etwas verbunden. Bald schon wurden die Pferde vorgeführt.

Als sie aufstiegen, sagte Goldmund: »Ich habe noch eine Bitte. Laß uns dern Weg über den Fischmarkt nehmen, ich habe dort noch etwas zu besorgen.«

Sie ritten ab, und Goldmund blickte zu allen Fenstern des Schlosses hinan, ob vielleicht Agnes in einem zu sehen sei. Er bekam sie nicht mehr zu sehen. Sie ritten über den Fischmarkt, Marie war sehr in Sorge um ihn gewesen. Er nahm von ihr und ihren Eltern Abschied, dankte ihnen tausendmal, versprach, einmal wiederzukommen, und ritt weg. Unter der Haustür blieb Marie stehen, bis die Reiter verschwunden waren. Langsam hinkte sie ins Haus zurück.

Sie ritten zu vieren; Narziß, Goldmund, der junge Mönch und ein bewaffneter Reitknecht.

»Kannst du dich noch an mein Rößchen Bleß erinnern«, fragte Goldmund, das in eurem Klosterstall stand?«

»Gewiß. Das findest du nicht mehr und hast es wohl auch nicht erwartet. Es ist wohl sieben oder acht Jahre her, seit wir es abtun mußten.«

»Daß du dich dessen erinnerst!«

»O ja, ich erinnere mich.«

Goldmund war nicht traurig über Bleßleins Tod. Er war froh darüber, daß Narziß so gut um Bleß Bescheid wußte, er, der sich nie um Tiere gekümmert und sicher niemals ein anderes Klosterpferd beim Namen gekannt hatte. Sehr froh war er darüber.

»Du wirst mich auslachen«, fing er wieder an, »daß das erste Wesen in eurem Kloster, nach dem ich fragte, das arme Pferdchen war. Es war nicht hübsch von mir. Eigentlich hatte ich nach ganz anderem fragen wollen, vor allem nach unserem Abt Daniel. Aber ich konnte mir ja denken, daß er gestorben ist, du bist ja sein Nachfolger. Und von lauter Todesfällen zu sprechen, das wollte ich fürs erste vermeiden. Ich bin auf den Tod zur Zeit nicht gut zu sprechen, wegen dieser vergangenen Nacht, und auch wegen der Pest, von der ich allzuviel gesehen habe. Aber nun sind wir schon dabei, und einmal muß es ja doch sein. Sage mir, wann und wie Abt Daniel gestorben ist, ich habe ihn sehr verehrt. Und sage mir auch, ob die Patres Anselm und Martin noch am Leben sind. Ich bin auf alles Schlimme gefaßt. Aber da wenigstens dich die Pest verschont hat, bin ich zufrieden. Zwar habe ich nie gedacht, du könntest gestorben sein, ich habe fest an unser Wiedersehen geglaubt. Aber der Glaube kann täuschen, das habe ich leider erfahren. Auch meinen Meister Niklaus, den Bildschnitzer, konnte ich mir nicht tot vorstellen, ich zählte bestimmt darauf, ihn wiederzufinden und aufs neue bei ihm zu arbeiten. Und doch war er tot, als ich kam.«

»Es ist rasch berichtet«, sagte Narziß. »Abt Daniel ist schon vor acht Jahren gestorben, ohne Krankheit und Schmerzen. Ich bin nicht sein Nachfolger, ich bin erst seit einem Jahr Abt. Sein Nachfolger wurde Pater Martin, einst unser Schulvorsteher, er starb im vergangenen Jahr, nicht ganz siebzig Jahre alt. Und Pater Anselm ist auch nicht mehr da. Er hatte dich gern, er sprach noch oft von dir. In seiner letzten Zeit konnte er gar nicht mehr gehen, und das Liegen war ihm eine große Qual; er ist an der Wassersucht gestorben. Ja, und die Pest war auch bei uns, es sind viele gestorben. Sprechen wir nicht davon! Hast du noch mehr zu fragen?«