»Du wirst mir davon später noch mehr erzählen. Aber was war es denn, was die Kunst dir gebracht und bedeutet hat?«
»Es war die Überwindung der Vergänglichkeit. Ich sah, daß aus dem Narrenspiel und Totentanz des Menschenlebens etwas übrigblieb und überdauerte: die Kunstwerke. Auch sie vergehen ja wohl irgendeinmal, sie verbrennen oder verderben oder werden wieder zerschlagen. Aber immerhin überdauern sie manches Menschenleben und bilden jenseits des Augenblicks ein stilles Reich der Bilder und Heiligtümer. Daran mitzuarbeiten scheint mir gut und tröstlich, denn es ist beinahe ein Verewigen des Vergänglichen.«
»Das gefällt mir sehr, Goldmund. Ich hoffe, du werdest noch viele schöne Werke machen, mein Vertrauen auf deine Kraft ist groß, und ich hoffe, du werdest in Mariabronn lange Zeit mein Gast sein und mir erlauben, dir eine Werkstatt einzurichten; unser Kloster hat seit langem keinen Künstler mehr gehabt. Aber ich glaube, du hast das Wunderbare der Kunst mit deiner Definition noch nicht erschöpft. Ich glaube, die Kunst besteht nicht bloß dann, daß durch Stein, Holz und Farben etwas Vorhandenes, aber Sterbliches dem Tod entrissen und zu längerer Dauer gebracht wird. Ich habe manches Kunstwerk gesehen, manchen Heiligen und manche Madonna, von denen ich nicht glaube, daß sie bloß treue Abbilder irgendeines einzelnen Menschen sind, der einmal gelebt hat und dessen Formen oder Farben der Künstler aufbewahrt hat.«
»Da hast du recht«, rief Goldmund eifrig, »ich hätte gar nicht geglaubt, daß du über die Kunst so gut Bescheid wüßtest! Das Urbild eines guten Kunstwerks ist nicht eine wirkliche, lebende Gestalt, obwohl sie der Anlaß dazu sein kann. Das Urbild ist nicht Fleisch und Blut, es ist geistig. Es ist ein Bild, das in der Seele des Künstlers seine Heimat hat. Auch in mir, Narziß, sind solche Bilder lebendig, die ich einmal darzustellen und dir zu zeigen hoffe.«
»Wie schön! Und jetzt, mein Lieber, hast du dich, ohne es zu wissen, mitten in die Philosophie begeben und hast eines ihrer Geheimnisse ausgesprochen.«
»Du machst dich über mich lustig.«
»O nein. Du hast von den ‚Urbildern’ gesprochen, von Bildern also, die nirgends vorhanden sind als im schöpferischen Geist, die aber in der Materie verwirklicht und sichtbar gemacht werden können. Lang ehe eine Kunstgestalt sichtbar wird und Wirklichkeit gewinnt, ist sie schon vorhanden, als Bild in der Seele des Künstlers! Dieses Bild nun, dies ‚Urbild’ ist aufs Haar genau das, was die alten Philosophen eine ‚Idee’ nennen.«
»Ja, das klingt ganz glaubhaft.«
»Nun, und indem du dich zu Ideen bekennst und zu Urbildern, begibst du dich in die geistige Welt, in unsere Philosophen- und Theologenwelt, und gibst zu, daß mitten in dem verwirrten und schmerzlichen Schlachtfeld des Lebens, mitten in diesem endlosen und sinnlosen Totentanz des leiblichen Daseins der schöpferische Geist vorhanden ist. Schau, an diesen Geist in dir habe ich mich stets gewendet, seit du als Knabe zu mir kamst. Dieser Geist ist bei dir nicht der eines Denkers, er ist der eines Künstlers. Aber er ist Geist, und er ist es, der dir den Weg zeigen wird aus dem trüben Wirrwarr der Sinnenwelt, aus dem ewigen Schaukeln zwischen Lust und Verzweiflung. Ach Lieber, ich bin glücklich, dies Bekenntnis von dir gehört zu haben. Ich habe darauf gewartet – seit damals, seit du deinen Lehrer Narziß verlassen hast und den Mut fandest, du selbst zu sein. Jetzt können wir aufs neue Freunde sein.«
In dieser Stunde schien es Goldmund, als habe sein Leben einen Sinn gewonnen, als übersähe er es wie von oben, sähe deutlich seine drei großen Stufen: die Abhängigkeit von Narziß und ihre Lösung – die Zeit der Freiheit und des Wanderns – und die Rückkehr, die Einkehr, den Beginn der Reife und Ernte.
Die Vision verlor sich wieder. Aber zu Narziß hatte er nun das Verhältnis gefunden, das ihm zukam, kein Verhältnis der Abhängigkeit mehr, sondern eines der Freiheit und Gegenseitigkeit. Nun konnte er ohne Demütigung bei seinem überlegenen Geist zu Gaste sein, da der andere in ihm den Ebenbürtigen, den Schöpfer erkannt hatte. Sich ihm zu zeigen, ihm in Bildwerken seine innere Welt sichtbar zu machen, darauf freute er sich mit wachsender Sehnsucht während dieser Reise. Manchmal aber kamen ihm auch Bedenken.
»Narziß«, warnte er, »ich fürchte, du weißt nicht, wen du da eigentlich mit in dein Kloster bringst. Ich bin kein Mönch und will auch keiner werden. Ich kenne ja die drei großen Gelübde, und mit der Armut bin ich gern einverstanden, aber ich liebe weder die Keuschheit noch den Gehorsam; diese Tugenden scheinen mir auch nicht so recht männlich zu sein. Und von Frömmigkeit ist bei mir gar nichts mehr übriggeblieben, ich habe seit Jahren nicht gebeichtet noch gebetet noch kommuniziert.«
Narziß blieb gelassen. »Du scheinst ein Heide geworden zu sein. Aber davor haben wir keine Angst. Auf deine vielen Sünden brauchst du nicht weiter stolz zu sein. Du hast das übliche Weltleben geführt, du hast wie der verlorene Sohn die Säue gehütet, du weißt nicht mehr, was Gesetz und Ordnung ist. Gewiß würde ein sehr schlechter Mönch aus dir werden. Aber ich lade dich ja gar nicht dazu ein, in den Orden zu treten; ich lade dich bloß ein, unser Gast zu sein und dir bei uns eine Werkstatt einzurichten. Und noch eines: vergiß nicht, daß damals in unsern Jünglingsjahren ich es gewesen bin, der dich aufgeweckt hat und ins Weltleben hinaus hat ziehen lassen. Es mag aus dir Gutes oder Schlechtes geworden sein, nächst dir selbst trage dafür ich die Verantwortung. Ich will sehen, was aus dir geworden ist; du wirst es mir zeigen, in Worten, im Leben, in deinen Werken. Wenn du es gezeigt haben wirst und wenn ich dann etwa finden sollte, daß unser Haus keine Stätte für dich ist, so werde ich der erste sein, der dich bitten wird, es wieder zu verlassen.«
Goldmund war jedesmal voll Bewunderung, wenn sein Freund so sprach, wenn er als Abt auftrat, mit der stillen Sicherheit und diesem Anflug von Spott für Weltleute und Weltleben, denn dann wurde ihm sichtbar, was aus Narziß geworden war: ein Mann. Ein Mann des Geistes zwar und der Kirche, mit zarten Händen und einem Gelehrtengesicht, aber ein Mann voll Sicherheit und Mut, ein Führer, einer, der Verantwortung trug. Dieser Mann Narziß war nicht mehr der Jüngling von damals und nicht mehr der sanfte innige Jünger Johannes, und diesen neuen Narziß, diesen männlichen und ritterlichen, wollte er mit seinen Händen abbilden. Viele Figuren warteten auf ihn: Narziß, der Abt Daniel, der Pater Anselm, der Meister Niklaus, die schöne Rebekka, die schöne Agnes und noch so manche andere, Freunde und Feinde, Lebende und Tote. Nein, er wollte kein Ordensbruder werden, weder ein frommer noch ein gelehrter, er wollte Werke schaffen; und daß seine einstige Jugendheimat die Heimat dieser Werke sein würde, machte ihn glücklich.
Sie ritten durch den kühlen Spätherbst, und eines Tages, an dem morgens die kahlen Bäume dick voll Rauhreif hingen, ritten sie über ein welliges weites Land mit leeren rötlichen Moorgebieten, und die Linien der langen Hügelzüge blickten merkwürdig mahnend und altbekannt, und es kam ein hoher Eschenwald und ein Bachlauf und eine alte Scheuer, bei deren Anblick fing Goldmunds Herz in froher Bangigkeit zu schmerzen an; er erkannte die Hügel, über die er einstmals mit der Ritterstochter Lydia geritten war, und die Heide, über die er einst, vertrieben und tief betrübt, durch den dünnen Schneefall davongewandert war. Es tauchten die Erlengruppen auf, und die Mühle, und die Burg, mit wunderlichem Schmerz erkannte er das Fenster der Schreibstube, in der er damals, in der sagenhaften Jugendzeit, den Ritter von seiner Pilgerfahrt hatte erzählen hören und sein Latein hatte korrigieren müssen. Sie ritten in den Hof, er gehörte zu den vorbestimmten Stationen ihrer Reise. Goldmund bat den Abt, hier seinen Namen nicht zu nennen und ihn mit dem Reitknecht beim Gesinde speisen zu lassen. So geschah es. Es war kein alter Ritter mehr da und keine Lydia, wohl aber noch einige von den Jägern und Knechten, und im Hause lebte und regierte eine sehr schöne, stolze und herrische Edelfrau, Julie, an der Seite eines Ehegatten. Wunderbar schön sah sie noch immer aus, sehr schön und etwas böse; weder von ihr noch vom Gesinde wurde Goldmund erkannt. Nach dem Imbiß in der Abenddämmerung schlich er zum Garten hinüber, sah über den Zaun auf die schon winterlichen Beete, schlich zur Stalltür und schielte zu den Pferden hinein. Mit dem Reitknecht schlief er auf dem Stroh, und die Last der Erinnerungen lag ihm auf der Brust, er erwachte viele Male. O wie zerstückt und unfruchtbar lag hinter ihm sein Leben, an herrlichen Bildern reich, aber in so viele Scherben zerschmissen, so arm an Wert, so arm an Liebe! Morgens beim Wegreiten blickte er bang zu den Fenstern empor, ob er vielleicht Julie noch einmal zu Gesicht bekäme. So hatte er vor kurzem im Hof der Bischofsresidenz umhergeblickt, ob Agnes sich noch einmal zeige. Sie war nicht gekommen, und auch Julie zeigte sich nicht mehr. So war sein ganzes Leben gewesen, schien ihm: Abschiednehmen, Davonfliehen, Vergessenwerden, Dastehen mit leeren Händen und frierendem Herzen. Den ganzen Tag ging es ihm nach, er sprach kein Wort, finster hing er im Sattel. Narziß ließ ihn gewähren.