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Goldmund unterbrach. »Verzeih, aber sind Begriffe und Abstraktionen, die du bevorzugst, nicht doch auch Vorstellungen, Bilder? Oder brauchst und liebst du wirklich zum Denken die Worte, bei welchen man sich nichts vorstellen kann? Kann man denn denken, ohne sich etwas dabei vorzustellen?«

»Gut, daß du fragst! Aber gewiß kann man ohne Vorstellungen denken! Das Denken hat mit Vorstellungen nicht das mindeste zu tun. Es vollzieht sich nicht in Bildern, sondern in Begriffen und Formeln. Genau dort, wo die Bilder aufhören, fängt die Philosophie an. Dies war es ja, worüber wir einst als Jünglinge so oft gestritten haben: für dich bestand die Welt aus Bildern, für mich aus Begriffen. Ich sagte dir stets, du seiest zum Denker untauglich, und sagte dir auch, daß dies kein Mangel sei, da du dafür ein Herrscher im Gebiet der Bilder bist. Paß auf, ich werde es dir klarmachen. Wärest du, statt damals in die Welt zu laufen, ein Denker geworden, so hättest du Unheil anrichten können. Du wärest nämlich ein Mystiker geworden. Die Mystiker sind, kurz und etwas grob gesagt, jene Denker, welche nicht von den Vorstellungen loskommen können, also überhaupt keine Denker sind. Sie sind heimliche Künstler: Poeten ohne Verse, Maler ohne Pinsel, Musiker ohne Töne. Es sind höchst begabte und edle Geister unter ihnen, aber sie sind alle ohne Ausnahme unglückliche Menschen. So einer hättest auch du werden können. Statt dessen bist du, Gott sei Dank, ein Künstler geworden und hast dich der Bilderwelt bemächtigt, wo du ein Schöpfer und Herr sein kannst, statt als Denker im Unzulänglichen steckenzubleiben.«

»Ich fürchte«, sagte Goldmund, »es wird mir nie gelingen, mir von deiner Denkwelt, wo man ohne Vorstellungen denkt, einen Begriff zu machen.«

»O doch, sofort wird dir das gelingen. Höre zu: der Denker versucht das Wesen der Welt durch die Logik zu erkennen und darzustellen. Er weiß, daß unser Verstand und sein Werkzeug, die Logik, unvollkommene Instrumente sind – ebenso wie ein kluger Künstler recht wohl weiß, daß sein Pinsel oder Meißel niemals vollkommen das strahlende Wesen eines Engels oder Heiligen wird ausdrücken können. Dennoch versuchen es beide, der Denker wie der Künstler, auf ihre Weise. Sie können und dürfen nicht anders. Denn indem ein Mensch mit den ihm von Natur gegebenen Gaben sich zu verwirklichen sucht, tut er das Höchste und einzig Sinnvolle, was er kann. Darum sagte ich früher so oft zu dir: versuche nicht den Denker oder den Asketen nachzuahmen, sondern sei du selbst, suche dich selbst zu verwirklichen!«

»Ich verstehe dich so halb und halb. Aber was heißt das eigentlich: sich verwirklichen?«

»Es ist ein philosophischer Begriff, ich kann es nicht anders ausdrücken. Für uns Schüler des Aristoteles und des heiligen Thomas ist der höchste aller Begriffe: das vollkommene Sein. Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist ganz und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich,wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir Teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt: sich verwirklichen. Du mußt ja diesen Vorgang aus eigener Erfahrung kennen. Du bist ja Künstler und hast manche Figuren gemacht. Wenn dir nun eine solche Figur wirklich geglückt ist, wenn du das Bildnis eines Menschen von Zufälligkeiten befreit und auf eine reine Form gebracht hast – dann hast du, als Künstler, dies Menschenbild verwirklicht.«

»Ich habe verstanden.«

»Du siehst mich, Freund Goldmund, an einem Ort und in einem Amte, wo es meiner Natur einigermaßen leicht gemacht wird, sich zu verwirklichen. Du siehst mich in einer Gemeinschaft und Überlieferung leben, die mir entspricht und mir hilft. Ein Kloster ist kein Himmel, es ist voll von Unvollkommenheit, aber dennoch ist ein anständig geführtes Klosterleben für Menschen von meiner Art unendlich viel fördernder als das Weltleben. Ich will nicht vom Sittlichen reden, aber schon rein praktisch verlangt das reine Denken, das zu üben und zu lehren meine Aufgabe ist, einen gewissen Schutz vor der Welt. Ich habe also hier in unserem Hause es viel leichter gehabt, mich zu verwirklichen, als du es gehabt hast. Daß du trotzdem einen Weg gefunden hast und ein Künstler geworden bist, das bewundere ich sehr. Denn du hast es ja so viel schwerer gehabt.«

Goldmund errötete vor Verlegenheit über das Lob, und auch vor Freude. Um abzulenken, unterbrach er den Freund: »Das meiste von dem, was du mir sagen wolltest, habe ich verstehen können. Eines aber will mir noch immer nicht in den Kopf: das, was du ‚das reine Denken’ nennst, also dein sogenanntes Denken ohne Bilder und das Operieren mit Worten, bei denen man sich nichts vorstellen kann.«

»Nun, an einem Beispiel kannst du es dir klarmachen. Denke doch an die Mathematik! Was für Vorstellungen enthalten die Zahlen? Oder die Zeichen Plus und Minus? Was für Bilder enthält eine Gleichung? Gar keine! Wenn du eine arithmetische oder algebraische Aufgabe lösest, so hilft dir keine Vorstellung dabei, sondern du vollziehst innerhalb gelernter Denkformen eine formale Aufgabe.«

»So ist es, Narziß. Wenn du mir eine Reihe von Zahlen und Zeichen hinschreibst, so kann ich mich ohne alle Vorstellungen durch sie hindurcharbeiten, kann mich von dem Plus und Minus, den Quadraten, den Einklammerungen und so weiter leiten lassen, und kann die Aufgabe lösen. Das heißt – ich konnte es einst, heut könnte ich es langst nicht mehr. Aber ich kann mir nicht denken, daß das Vollziehen solcher formaler Aufgaben einen anderen Wert habe als den einer Verstandesübung für Schüler. Rechnen lernen ist ja ganz gut. Aber ich fände es sinnlos und kindisch, wenn ein Mensch sein Leben lang über solchen Rechenaufgaben sitzen und ewig sein Papier mit Zahlenreihen bedecken würde.«

»Du täuschest dich, Goldmund. Du nimmst eben an, daß dieser fleißige Rechner immer neue Schulaufgaben löse, die ein Lehrer ihm stellt. Er kann sich die Fragen aber auch selbst stellen, sie können als zwingende Gewalten m ihm entstehen. Man muß manchen wirklichen und manchen fiktiven Raum mathematisch berechnet und gemessen haben, ehe man als Denker an das Problem des Raumes sich wagen kann.«

»Nun, ja. Aber das Problem des Raumes, als reines Denkproblem, scheint mir auch in der Tat nicht der Gegenstand zu sein, an den ein Mann seine Arbeit und seine Jahre verschwenden sollte. Das Wort ‚Raum’ ist für mich nichts und keines Gedankens wert, solange ich mir nicht einen wirklichen Raum dabei vorstelle, etwa den Sternenraum; den zu betrachten und auszumessen scheint mir allerdings keine unwürdige Aufgabe.«

Lächelnd fiel Narziß ein: »Du willst eigentlich sagen, daß du vom Denken nichts hältst, wohl aber von der Anwendung des Denkens auf die praktische und sichtbare Welt. Ich kann dir antworten: an Gelegenheiten zur Anwendung unseres Denkens und am Willen dazu fehlt es uns keineswegs. Der Denker Narziß zum Beispiel hat die Ergebnisse seines Denkens sowohl auf seinen Freund Goldmund wie auf jeden seiner Mönche hundertmal zur Anwendung gebracht und tut es zu jeder Stunde. Wie aber sollte er etwas ‚anwenden’, wenn er es nicht zuvor gelernt und geübt hätte. Auch der Künstler übt ja sein Auge und seine Phantasie immerzu, und wir erkennen seine Übung an, wenn sie auch nur in wenigen wirklichen Werken zur Auswirkung kommt. Du kannst nicht das Denken als solches verwerfen, seine ‚Anwendung’ aber billigen! Der Widerspruch ist klar. Also laß mich ruhig denken, und beurteile mein Denken nach seinen Auswirkungen, ebenso wie ich deine Künstlerschaft nach deinen Werken beurteilen werde. Du bist jetzt unruhig und gereizt, weil zwischen dir und deinen Werken noch Hindernisse liegen. Räume sie weg, suche oder baue dir eine Werkstatt und gehe auf deine Werke los! Viele Fragen werden sich dabei von selber lösen.«