Narziss blieb fest. »Einen Teil deiner Gedanken halte ich für Kindergedanken. Erinnere dich, wir sprachen vorher davon, dass ein kluges Kind durchaus nicht dümmer zu sein brauche als ein Gelehrter. Wenn aber das Kind über Wissenschaft mitreden will, wird der Gelehrte es eben nicht ernst nehmen.«
Heftig rief Goldmund: »Auch wenn wir nicht über Wissenschaft reden, belächelst du mich! Du tust zum Beispiel immer so, als sei meine ganze Frömmigkeit, meine Bemühungen um Fortschritte im Lernen, mein Wunsch nach dem Mönchtum bloß Kinderei!«
Ernst blickte Narziss ihn an: »Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts anderes, als dass du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch – einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seiest mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.«
Hatte sich auch Goldmund nach diesem Gespräch betroffen und sogar verletzt zurückgezogen, schon nach wenigen Tagen zeigte er dennoch selbst Verlangen nach seiner Fortsetzung. Diesmal nun gelang es Narziss, ihm ein Bild von den Unterschieden ihrer Naturen zu geben, das er besser annehmen konnte.
Narziss hatte sich warm geredet[36], er fühlte, dass Goldmund heute seine Worte offener und williger in sich einließe, dass er Macht über ihn habe. Er ließ sich durch den Erfolg verführen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte, er ließ sich von seinen eigenen Worten hinreißen.
»Schau«, sagte er, »es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewusstsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Dass du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann. Bei dir, Goldmund, sind Geist und Natur, Bewusstsein und Traumwelt sehr weit auseinander. Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst. – Genug davon! Im Wachsein, wie gesagt, bin ich stärker als du, hier bin ich dir überlegen und kann dir darum nützen. In allem andern, Lieber, bist du ja mir überlegen – vielmehr du wirst es sein, sobald du dich selbst gefunden hast.«
Goldmund hatte staunend zugehört, aber bei dem Wort »Du hast deine Kindheit vergessen« zuckte er auf wie von einem Pfeil getroffen[37], ohne dass Narziss es beachtete, der nach seiner Art während des Sprechens die Augen oft lange geschlossen hielt oder vor sich hinstarrte, als fände er die Worte so besser. Er sah nicht, wie Goldmunds Gesicht plötzlich zuckte und zu verwelken begann.
»Überlegen – ich dir!« stammelte Goldmund, nur um etwas zu sagen, er war wie von einer Starre befallen.
»Gewiss«, sprach Narziss weiter. »Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben…«
Mit weit offenen Augen hatte Goldmund zugehört, wie Narziss in einer gewissen rednerischen Selbstberauschung sprach. Mehrere seiner Worte hatten ihn getroffen wie Schwerter; bei den letzten Worten wurde er blass und schloss die Augen, und als Narziss es merkte und erschrocken fragte, sagte der tief Erbleichte mit erloschener Stimme: »Es ist mir einmal passiert, dass ich vor dir zusammenbrach und weinen musste – du erinnerst dich. Es darf nicht wieder passieren, ich würde es mir nie verzeihen – und auch dir nicht! Geh jetzt schnell fort und lass mich allein, du hast mir furchtbare Worte gesagt.«
Narziss war sehr betreten. Die Worte hatten ihn mitgerissen, er hatte das Gefühl gehabt, besser als sonst zu sprechen. Nun sah er mit Bestürzung, dass irgendeines dieser Worte den Freund tief erschüttert habe, dass er irgendwo ins Lebendige getroffen habe[38]. Es fiel ihm schwer, ihn in diesem Augenblick allein zu lassen, er zögerte sekundenlang, Goldmunds Stirnrunzeln mahnte ihn, und verwirrt lief er davon, um dem Freunde das Alleinsein zu gönnen, dessen er bedurfte.
Diesmal löste die Überspannung in Goldmunds Seele sich nicht in Tränen auf. Mit einem Gefühl tiefsten und hoffnungslosen Verwundetseins, als habe der Freund ihm plötzlich ein Messer mitten in die Brust gestoßen, blieb er stehen, schwer atmend, mit einem tödlich zusammengepressten Herzen, wachsbleich im Gesicht, mit abgestorbenen Händen. Es war wieder das Elend von damals, nur um einige Grade verstärkt, es war wieder das Würgen im Innern, das Gefühl, etwas Furchtbarem ins Auge sehen zu müssen, etwas schlechterdings Unerträglichem. Aber kein erlösendes Schluchzen half diesmal das Elend überstehen. Heilige Mutter Gottes, was war denn nur? War denn etwas geschehen? Hatte man ihn gemordet? Hatte er getötet? Was war da Furchtbares gesagt worden?
Keuchend stieß er den Atem von sich, wie ein Vergifteter war er bis zum Zerreißen erfüllt von dem Gefühl, sich von etwas Tödlichem befreien zu müssen, das tief in ihm innen stecke. Mit Bewegungen wie ein Schwimmender stürzte er aus der Stube, floh unbewusst in die stillsten, menschenleersten Bezirke des Klosters, durch Gänge, über Treppen, und ins Freie, an die Luft. Er war in die innerste Zuflucht des Klosters, in den Kreuzgang geraten, über den paar grünen Beeten stand klar der sonnige Himmel, durch die kühle steinerne Kellerluft zog in süßen zögernden Fäden der Duft von Rosen.
Ahnungslos hatte Narziss in dieser Stunde das getan, was zu tun schon lange sein ersehntes Ziel war: er hatte den Dämon, von dem sein Freund besessen war, bei Namen gerufen, er hatte ihn gestellt. Von irgendeinem seiner Worte war das Geheimnis in Goldmunds Herzen angerührt worden und hatte sich in rasendem Schmerz aufgebäumt. Lange irrte Narziss durchs Kloster und suchte den Freund, fand ihn aber nirgends.
Goldmund stand unter einem der runden schweren Steinbogen, die aus den Gängen ins Kreuzgärtchen führten, von den Säulen des Bogens blickten je drei Tierköpfe, steinerne Köpfe von Hunden oder Wölfen, glotzend auf ihn herab. Schauerlich wühlte in ihm die Wunde, ohne Weg zum Licht, ohne Weg zur Vernunft. Todesangst schnürte ihm Kehle und Magen. Mechanisch aufblickend sah er über sich einen der Säulenknäufe mit den drei Tierköpfen, und alsbald war ihm, als säßen, glotzten, bellten die drei wilden Köpfe innen in seinen Eingeweiden.
»Gleich muss ich sterben«, empfand er ergrausend. Und gleich darauf, zitternd vor Angst, empfand er: »Jetzt verliere ich den Verstand, jetzt fressen mich die Tiermäuler.«
Zuckend sank er am Fuße der Säule nieder, der Schmerz war zu groß, er hatte die äußerste Grenze erreicht. Eine Ohnmacht umhüllte ihn; er entschwand, mit einsinkendem Gesicht, in ein ersehntes Nichtmehrsein.
Abt Daniel hatte einen wenig erfreulichen Tag gehabt, zwei von den älteren Mönchen waren heut zu ihm gekommen, aufgeregt, keifend, anklägerisch wegen uralter eifersüchtiger Nichtigkeiten wieder einmal wütend verzankt. Er hatte sie angehört, allzulange, hatte sie ermahnt, doch erfolglos, hatte sie schließlich streng entlassen, jeden mit einer ziemlich harten Strafe belegt, und hatte im Herzen das Gefühl behalten, sein Tun sei nutzlos gewesen. Erschöpft hatte er sich in die Kapelle der Unterkirche zurückgezogen, hatte gebetet, war unerfrischt wieder aufgestanden. Jetzt trat er, vom leise herziehenden Rosenduft angezogen, für einen Augenblick, um Luft zu schöpfen, in den Kreuzgang. Da fand er den Schüler Goldmund ohnmächtig auf den Fliesen liegen. Traurig sah er ihn an, über die Blässe und Erloschenheit des sonst so hübschen jungen Antlitzes erschrocken. Es war kein guter Tag heute, nun auch dies noch! Er versuchte, den Jüngling aufzuheben, war aber der Last nicht gewachsen. Tief seufzend ging er weg, der alte Mann, um zwei von den jüngeren Brüdern zu rufen, dass sie ihn hinauftrügen, und schickte auch noch den Pater Anselm hin, der ein Heilkünstler war. Zugleich schickte er nach Narziss, der bald gefunden wurde und vor ihm erschien.