»O nein«, rief Goldmund, »dazu sind wir nicht Freunde geworden! Was wäre das für eine Freundschaft, die nach einer kurzen Strecke ihr Ziel erreicht hat und einfach aufhören kann! Hast du denn genug von mir? Bin ich dir denn entleidet?«
Narziss ging heftig auf und ab, die Blicke am Boden, dann blieb er vor dem Freunde stehen.
»Lass gut sein«, sagte er sanft, »du weißt wohl, dass du mir nicht entleidet bist.«
Zweifelnd betrachtete er den Freund, nahm alsdann seine Wanderung wieder auf, hin und her, blieb nochmals stehen und sah Goldmund an, mit festem Blick aus dem harten und hagern Gesicht. Mit leiser Stimme, aber fest und hart, sagte er: »Hör zu, Goldmund! Unsere Freundschaft ist gut gewesen; sie hat ein Ziel gehabt und hat es erreicht, sie hat dich wach gemacht. Ich hoffe, sie sei nicht zu Ende; ich hoffe, sie werde sich nochmals und immer wieder erneuern und zu neuen Zielen führen. Für den Augenblick ist kein Ziel da. Das deine ist ungewiss, ich kann dich da weder führen noch begleiten. Frage deine Mutter, frage ihr Bild, höre auf sie! Mein Ziel aber liegt nicht im Ungewissen, es liegt hier, im Kloster, es fordert mich zu jeder Stunde. Ich darf dein Freund sein, aber ich darf nicht verliebt sein. Ich bin Mönch, ich habe das Gelübde getan. Ich werde, ehe ich die Weihen erhalte, mich vom Lehramt beurlauben lassen Und viele Wochen mich zu Fasten und Exerzitien zurückziehen. Ich werde in dieser Zeit nichts Weltliches sprechen, auch mit dir nicht.«
Goldmund verstand. Traurig sagte er: »Du wirst nun also das tun, was auch ich getan hätte, wenn ich für immer in den Orden getreten wäre. Und wenn deine Übungen absolviert sind, wenn du genug gefastet und gebetet und gewacht hast – wohin wirst du dann zielen?«
»Du weißt es«, sagte Narziss.
»Nun ja. Du wirst in einigen Jahren erster Lehrer sein, vielleicht auch schon Schulvorsteher. Du wirst den Unterricht verbessern, wirst die Bibliothek vergrößern. Vielleicht wirst du selbst Bücher verfassen. Nicht? Nun, also nicht. Aber wo wird das Ziel sein?«
Narziss lächelte schwach. »Das Ziel? Vielleicht werde ich als Schulvorsteher sterben oder als Abt oder Bischof. Einerlei. Das Ziel ist dies: mich immer dahin zu stellen, wo ich am besten dienen kann, wo meine Art, meine Eigenschaften und Gaben den besten Boden, das größte Wirkungsfeld finden. Es gibt kein anderes Ziel.«
Goldmund: »Kein anderes Ziel für einen Mönch?«
Narziss: »O ja, Ziele genug. Es kann für einen Mönch Lebensziel sein, Hebräisch zu lernen, den Aristoteles zu kommentieren oder die Klosterkirche auszuschmücken oder sich einzuschließen und zu meditieren oder hundert andere Dinge zu tun. Für mich sind das keine Ziele. Ich will weder den Reichtum des Klosters vermehren noch den Orden reformieren oder die Kirche. Ich will innerhalb des mir Möglichen dem Geist dienen, so wie ich ihn verstehe, nichts anderes. Ist das kein Ziel?«
Lange überlegte sich Goldmund die Antwort.
»Du hast recht«, sagte er. »Habe ich dich auf dem Weg zu deinem Ziel sehr gehindert?«
»Gehindert? O Goldmund, niemand hat mich mehr gefördert als du. Du hast mir Schwierigkeiten gemacht, aber ich bin kein Feind von Schwierigkeiten. Ich habe an ihnen gelernt, ich habe sie zum Teil überwunden.«
Goldmund unterbrach ihn, halb scherzend sagte er: »Wunderbar hast du sie überwunden! Aber sage doch: wenn du mir geholfen, mich geführt und befreit und meine Seele gesund gemacht hast – hast du denn damit wirklich dem Geist gedient? Du hast damit wahrscheinlich dem Kloster einen eifrigen und gutgewillten Novizen entzogen und hast dem Geist vielleicht einen Gegner erzogen, einen, der gerade das Gegenteil von dem tun und glauben und anstreben wird, was du für gut hältst!«
»Warum nicht?« sagte Narziss mit tiefem Ernst, »Mein Freund, du kennst mich noch immer so wenig! Ich habe in dir wahrscheinlich einen künftigen Mönch verdorben und habe dafür in dir einen Weg freigemacht für ein nicht gewöhnliches Schicksal. Auch wenn du morgen unser ganzes hübsches Kloster niederbrennen würdest oder irgendeine tolle Irrlehre in der Welt verkündigen, ich würde keinen Augenblick bereuen, dir auf den Weg dazu geholfen zu haben.«
Freundlich legte er dem Freunde beide Hände auf die Schultern.
»Sieh, kleiner Goldmund, zu meinem Ziel gehört auch dies: mag ich Lehrer oder Abt, Beichtvater oder was immer sein, niemals möchte ich in die Lage kommen, einem starken, wertvollen und besonderen Menschen zu begegnen und ihn nicht zu verstehen, ihn nicht erschließen, ihn nicht fördern zu können. Und ich sage dir: mag aus dir und aus mir dies oder jenes werden, mag es uns so oder anders gehen, nie wirst du im Augenblick, wo du mich ernstlich rufst und zu brauchen meinst, mich dir verschlossen finden. Niemals.«
Das klang wie Abschiednehmen, und wirklich war es der Vorgeschmack des Abschieds. Wie Goldmund vor seinem Freunde stand und ihn betrachtete, das entschlossene Gesicht, das auf Ziele gerichtete Auge, da fühlte er untrüglich, dass sie beide jetzt nicht mehr Brüder und Kameraden und ihresgleichen waren, dass ihre Wege sich schon getrennt hatten. Dieser hier, der vor ihm stand, war kein Träumer und wartete auch nicht auf irgendwelche Zurufe des Schicksals; er war ein Mönch, er hatte sich verschrieben, er gehörte einer festen Ordnung und Pflicht, war ein Diener und Soldat des Ordens, der Kirche, des Geistes. Er selbst aber, dies war ihm heute klargeworden, gehörte nicht hierher, er war ohne Heimat, eine unbekannte Welt wartete auf ihn. So war es einst auch seiner Mutter gegangen. Sie hatte Haus und Hof, Mann und Kind, Gemeinschaft und Ordnung, Pflicht und Ehre verlassen und war ins Ungewisse hinausgegangen, war wohl längst darin untergegangen, Sie hatte kein Ziel gehabt, wie auch er keines hatte. Ziele zu haben, das war anderen gegeben, ihm nicht. O wie gut hatte Narziss dies alles schon vor langer Zeit gesehen, wie recht hatte er gehabt!
Schon bald nach diesem Tage war Narziss wie verschwunden, er schien plötzlich unsichtbar geworden zu sein. Ein anderer Lehrer gab seine Lektionen, sein Lesepult in der Bibliothek blieb leer. Er war noch da, er war nicht völlig unsichtbar, man konnte ihn zuweilen den Kreuzgang durchschreiten sehen, konnte ihn manchmal in einer der Kapellen murmeln hören, auf dem Steinboden kniend;
man wusste, dass er die große Übung angetreten hatte, dass er fastete und dreimal in der Nacht zu Exerzitien sich erhob. Er war noch da und war doch in eine andere Welt hinübergegangen; man konnte ihn sehen, selten genug, konnte ihn aber nicht erreichen, nichts mit ihm gemein haben, nicht mit ihm sprechen. Goldmund wusste: Narziss würde wieder erscheinen, er würde sein Arbeitspult, seinen Stuhl im Refektorium[47] wieder einnehmen, würde wieder sprechen – aber von dem Gewesenen würde nichts wiederkommen, Narziss würde nicht wieder ihm gehören. Indem er es bedachte, wurde auch das ihm klar, dass es einzig Narziss gewesen war, durch welchen ihm Kloster und Mönchtum, Grammatik und Logik, Studium und Geist wichtig und lieb geworden war. Sein Vorbild hatte ihn gelockt, wie er zu werden, war sein Ideal gewesen. Wohl, auch der Abt war noch da, auch ihn hatte er verehrt, auch ihn geliebt und ein hohes Vorbild in ihm gesehen. Aber die andern, die Lehrer, die Mitschüler, der Schlafsaal, der Speisesaal, die Schule, die Übungen, die Gottesdienste, das ganze Kloster – ohne Narziss ging es ihn nichts mehr an. Was tat er noch hier?
Er wartete, er stand unterm Dach des Klosters wie ein unentschlossener Wanderer bei Regen unter irgendeinem Dach oder Baum stehenbleibt, bloß um zu warten, bloß als Gast, bloß aus Angst vor der Unwirtlichkeit der Fremde.
Goldmunds Leben in dieser Zeit war nur noch ein Zögern und Abschiednehmen. Alle Orte suchteer auf, die ihm lieb oder bedeutsam geworden waren. Mit wunderlicher Befremdung stellte er fest, wie wenige Menschen und Gesichter da waren, von welchen der Abschied ihm schwerfallen würde. Da war Narziss und der alte Abt Daniel und auch noch der gute liebe Pater Anselm und auch etwa noch der freundliche Pförtner und der lebenslustige Nachbar Müller – aber auch diese waren schon beinahe unwirklich geworden. Schwerer als von ihnen würde er Abschied nehmen von der großen steinernen Madonna in der Kapelle, von den Aposteln des Portals. Lange stand er vor ihnen, auch vor den schönen Schnitzereien des Chorgestühls, vor dem Brunnen im Kreuzgang, vor der Säule mit den drei Tierköpfen, lehnte sich im Hof an die Linden, an den Kastanienbaum. Dies alles würde ihm einmal eine Erinnerung sein, ein kleines Bilderbuch in seinem Herzen. Schon jetzt, da er noch mittendrin war, begann es ihm zu entgleiten, verlor an Wirklichkeit, wandelte sich gespenstisch in etwas Gewesenes. Mit Pater Anselm, der ihn gern um sich hatte, ging er auf die Kräutersuche, beim Klostermüller sah er den Knechten zu und ließ sich je und je zu Wein und gebackenen Fischen einladen; aber alles war schon fremd und halb wie Erinnerung. So wie drüben in der Kirchendämmerung und der Bußzelle sein Freund Narziss zwar wandelte und lebte, für ihn aber ein Schatten geworden war, so stand alles rings um ihn entwirklicht, atmete Herbst und Vergänglichkeit.