Auch jetzt gab es im Kloster Mariabronn zwei Einzelne und Besondere, einen Alten und einen Jungen. Zwischen den vielen Brüdern, deren Schwarm die Dormente, Kirchen und Schulsäle erfüllte, gab es zwei, von denen jeder wusste, auf die jeder achtete. Es gab den Abt Daniel, den Alten, und den Zögling Narziss, den Jungen, der erst seit kurzem das Noviziat angetreten hatte, aber seiner besonderen Gaben wegen gegen alles Herkommen schon als Lehrer verwendet wurde, besonders im Griechischen. Diese beiden, der Abt und der Novize, hatten Geltung[7] im Hause, waren beobachtet und weckten Neugierde, wurden bewundert und beneidet und auch heimlich gelästert.
Den Abt liebten die meisten, er hatte keine Feinde, er war voll Güte, voll Einfalt, voll Demut. Nur die Gelehrten des Klosters mischten in ihre Liebe etwas von Herablassung; denn Abt Daniel mochte ein Heiliger sein, ein Gelehrter jedoch war er nicht. Ihm war jene Einfalt eigen, welche Weisheit ist; aber sein Latein war bescheiden, und Griechisch konnte er überhaupt nicht.
Jene wenigen, welche gelegentlich die Einfalt des Abtes etwas belächelten, waren desto mehr von Narziss bezaubert, dem Wunderknaben, dem schönen Jüngling mit dem eleganten Griechisch, mit dem ritterlich tadellosen Benehmen, mit dem stillen, eindringlichen Denkerblick und den schmalen, schön und streng gezeichneten Lippen. Dass er wunderbar Griechisch konnte, liebten die Gelehrten an ihm. Dass er so edel und fein war, liebten beinahe alle an ihm, viele waren in ihn verliebt. Dass er so sehr still und beherrscht war und so höfische Manieren hatte, nahmen manche ihm übel.
Abt und Novize, jeder trug auf seine Art das Schicksal des Auserwählten, herrschte auf seine Art, litt auf seine Art. Jeder der beiden fühlte sich dem andern mehr verwandt und mehr zu ihm hingezogen als zum ganzen übrigen Klostervolk; dennoch fanden sie nicht zueinander, dennoch konnte keiner beim andern warm werden. Der Abt behandelte den Jüngling mit größter Sorgfalt, mit größter Rücksicht, hatte um ihn Sorge als um einen seltenen, zarten, vielleicht allzufrüh gereiften, vielleicht gefährdeten Bruder. Der Jüngling nahm jeden Befehl, jeden Rat, jedes Lob des Abtes mit vollkommener Haltung entgegen, widersprach niemals, war nie verstimmt, und wenn das Urteil des Abtes über ihn richtig und sein einziges Laster der Hochmut war, so wusste er dies Laster wunderbar zu verbergen. Es war gegen ihn nichts zu sagen, er war vollkommen, er war allen überlegen. Nur wurden wenige ihm wirklich Freund, außer den Gelehrten, nur umgab seine Vornehmheit ihn wie eine erkältende Luft.
»Narziss«, sagte der Abt nach einer Beichte zu ihm, »ich bekenne mich eines harten Urteils über dich schuldig. Ich habe dich oft für hochmütig gehalten, und vielleicht tat ich dir damit unrecht. Du bist sehr allein, junger Bruder, du bist einsam, du hast Bewunderer, aber keine Freunde. Ich wollte wohl, ich hätte Anlass, dich zuweilen zu tadeln; aber es ist kein Anlass. Ich wollte wohl, du wärest manchmal unartig, wie es junge Leute deines Alters sonst leicht sind. Du bist es nie. Ich sorge mich zuweilen ein wenig um dich, Narziss.« Der Junge schlug seine dunklen Augen zu dem Alten auf.
»Ich wünsche sehr, gnädiger Vater, Euch keine Sorge zu machen. Es mag wohl sein, dass ich hochmütig bin, gnädiger Vater. Ich bitte Euch, mich dafür zu strafen. Ich habe selbst zuzeiten den Wunsch, mich zu strafen. Schickt mich in eine Einsiedelei, Vater, oder lasset mich niedere Dienste tun.«
»Für beides bist du zu jung, lieber Bruder«, sagte der Abt. »Überdies bist du der Sprachen und des Denkens in hohem Grade fähig, mein Sohn; es wäre eine Vergeudung dieser Gottesgaben, wollte ich dir niedere Dienste auftragen. Wahrscheinlich wirst du wohl ein Lehrer und Gelehrter werden. Wünschest du dies nicht selbst?«
»Verzeiht, Vater, ich weiß über meine Wünsche nicht so sehr genau Bescheid. Ich werde stets Freude an den Wissenschaften haben, wie sollte es anders sein? Aber ich glaube nicht, dass die Wissenschaften mein einziges Gebiet sein werden. Es mögen ja nicht immer die Wünsche sein, die eines Menschen Schicksal und Sendung bestimmen, sondern anderes, Vorbestimmtes.«
Der Abt horchte und wurde ernst. Dennoch stand ein Lächeln auf seinem alten Gesicht, als er sagte: »Soviel ich die Menschen habe kennen lernen, neigen wir, zumal in der Jugend, alle ein wenig dazu, die Vorsehung und unsere Wünsche miteinander zu verwechseln. Aber sage mir, da du deine Bestimmung vorauszuwissen glaubst, ein Wort darüber. Wozu denn glaubst du bestimmt zu sein?« Narziss schloss seine dunklen Augen halb, dass sie unter den langen schwarzen Wimpern verschwanden. Er schwieg.
»Sprich, mein Sohn«, mahnte nach langem Warten der Abt. Mit leiser Stimme und gesenkten Augen begann Narziss zu sprechen.
»Ich glaube zu wissen, gnädiger Vater, dass ich vor allem zum Klosterleben bestimmt bin. Ich werde, so glaube ich, Mönch werden, Priester werden, Subprior und vielleicht Abt werden. Ich glaube dies nicht, weil ich es wünsche. Mein Wunsch geht nicht nach Ämtern. Aber sie werden mir auferlegt werden.«
Lange schwiegen beide.
»Warum hast du diesen Glauben?« fragte zögernd der Alte. »Welche Eigenschaft in dir, außer der Gelehrsamkeit, ist es wohl, die in diesem Glauben zu Wort kommt[8]?«
»Es ist die Eigenschaft«, sagte Narziss langsam, »dass ich ein Gefühl für die Art und Bestimmung der Menschen habe, nicht nur für meine eigene, auch für die der andern. Diese Eigenschaft zwingt mich, den andern dadurch zu dienen, dass ich sie beherrsche. Wäre ich nicht zum Klosterleben geboren, so würde ich Richter oder Staatsmann werden müssen.
»Mag sein«, nickte der Abt. »Hast du deine Fähigkeit, Menschen und ihre Schicksale zu erkennen, an Beispielen erprobt?«
»Ich habe sie erprobt.«
»Bist du bereit, mir ein Beispiel zu nennen?«
»Ich bin bereit.«
»Gut. Da ich nicht in die Geheimnisse unserer Brüder ohne deren Wissen eindringen möchte, magst du mir vielleicht sagen, was du über mich, deinen Abt Daniel, zu wissen meinst.«
Narziss hob seine Lider und blickte dem Abt in die Augen.
»Ist es Euer Befehl, gnädiger Vater?«
»Mein Befehl.«
»Es fällt mir schwer, zu sprechen, Vater.«
»Auch mir fällt es schwer, junger Bruder, dich zum Sprechen zu zwingen. Ich tue es dennoch. Sprich!«
Narziss senkte den Kopf und sagte flüsternd: »Es ist wenig, was ich von Euch weiß, verehrter Vater. Ich weiß, dass Ihr ein Diener Gottes seid, dem es lieber wäre, Ziegen zu hüten oder in einer Einsiedelei das Glöckchen zu läuten und die Beichten der Bauern anzuhören, als ein großes Kloster zu regieren. Ich weiß, dass Ihr eine besondere Liebe zur heiligen Mutter Gottes habet und zu ihr am meisten betet. Ihr betet zuweilen darum, dass die griechischen und anderen Wissenschaften, die in diesem Kloster gepflegt werden, keine Verwirrung und Gefahr für die Seelen Eurer Anbefohlenen sein mögen. Ihr betet zuweilen, dass Euch gegen den Subprior Gregor die Geduld nicht verlasse. Ihr betet zuweilen um ein sanftes Ende. Und Ihr werdet, so glaube ich, erhört werden und ein sanftes Ende haben.«