Dann trat er in den Schulsaal, wo ein Dutzend Knaben und Jünglinge auf den Bänken saßen, und der Lehrgehilfe Narziss wendete sich um.
»Ich bin Goldmund«, sagte er, »der neue Schüler.«
Narziss grüßte kurz, ohne Lächeln, wies ihm einen Platz in der hintern Bank an und fuhr sofort in seinem Unterricht fort.
Goldmund setzte sich. Er war erstaunt darüber, einen so jungen Lehrer zu finden, kaum einige Jahre älter als er selbst, und war erstaunt und tief erfreut darüber, diesen jungen Lehrer so schön, so vornehm, so ernst, dabei so gewinnend und liebenswert zu finden. Der Pförtner war nett mit ihm gewesen, der Abt war ihm so freundlich begegnet, drüben im Stall stand Bless und war ein Stück Heimat, und nun war da dieser erstaunlich junge Lehrer, ernst wie ein Gelehrter und fein wie ein Prinz, und mit dieser beherrschten, kühlen, sachlichen, zwingenden Stimme! Dankbar hörte er zu, ohne doch gleich zu verstehen, von was da die Rede sei. Ihm wurde wohl. Er war zu guten, zu liebenswerten Menschen gekommen, und er war bereit, sie zu lieben und um ihre Freundschaft zu werben. Am Morgen im Bett, nach dem Erwachen, hatte er sich beklommen gefühlt, und müde von der langen Reise war er auch noch, und beim Abschied von seinem Vater hatte er etwas weinen müssen. Aber jetzt war es gut, er war zufrieden. Lange und immer wieder sah er den jungen Lehrer an, freute sich an seiner straffen schlanken Gestalt, seinem kühl blitzenden Auge, seinen straffen, klar und fest die Silben formenden Lippen, an seiner beschwingten, unermüdlichen Stimme.
Aber als die Unterrichtsstunde zu Ende war und die Schüler sich lärmend erhoben, schrak Goldmund auf und merkte etwas beschämt, dass er eine ganze Weile geschlafen hatte. Und nicht er allein merkte es, auch seine Banknachbarn hatten es gesehen und flüsternd weitergemeldet. Kaum hatte der junge Lehrer den Saal verlassen, da zupften und stießen die Kameraden Goldmund von allen Seiten.
»Ausgeschlafen?« fragte einer und grinste.
»Feiner Schüler!« höhnte einer. »Aus dem wird ein schönes Kirchenlicht werden. Dachst gleich in der ersten Stunde ein!«
»Bringt ihn zu Bett, den Kleinen«, schlug einer vor, und sie ergriffen ihn an Armen und Beinen, um ihn unter Gelächter wegzutragen.
So aufgeschreckt wurde Goldmund zornig; er schlug um sich, suchte sich zu befreien, bekam Püffe und wurde schließlich fallen gelassen, während einer ihn noch an einem Fuße festhielt. Von diesem trat er sich gewaltsam los, warf sich auf den ersten besten, der sich stellte, und war alsbald mit ihm in einen heftigen Kampf verwickelt. Sein Gegner war ein starker Kerl, und alle sahen dem Zweikampf mit Begierde zu. Als Goldmund nicht unterlag und dem Starken einige gute Fausthiebe beibrachte, hatte er schon Freunde unter den Kameraden, noch ehe er einen von ihnen mit Namen kannte. Plötzlich aber stoben alle in größter Hast davon, und kaum waren sie weg, so trat der Pater Martin herein, der Schulvorsteher, und stand dem allein zurückgebliebenen Knaben gegenüber. Verwundert sah er den Knaben an, dessen blaue Augen verlegen aus dem hochgeröteten und etwas zerschlagenen Gesicht blickten.
»Ja, was ist denn mit dir?« fragte er. »Du bist doch Goldmund, nicht? Haben sie dir denn etwas getan, die Lotterbuben?«
»O nein«, sagte der Knabe, »ich bin mit ihm fertig geworden.«
»Mit wem denn?«
»Ich weiß nicht. Ich kenne noch keinen. Einer hat mit mir gekämpft.«
»So? Hat er angefangen?«
»Ich weiß nicht. Nein, ich glaube, ich habe selber angefangen. Sie haben mich gehänselt, da wurde ich böse.«
»Nun, du fängst ja gut an, mein Junge. Also merke dir: wenn du noch einmal hier im Schulzimmer Prügeleien auskämpfst, gibt es Strafe. Und jetzt mache, dass du zum Vesperbrot kommst, vorwärts!«
Lächelnd sah er Goldmund nach, wie er beschämt davonlief und unterwegs das zerzauste hellblonde Haar mit den Fingern zu strählen bemüht war.
Goldmund war selbst der Meinung, seine erste Tat in diesem Klosterleben sei recht unartig und töricht gewesen; ziemlich zerknirscht suchte und fand er seine Schulkameraden beim Vesperbrot. Aber er wurde mit Achtung und Freundlichkeit empfangen, er versöhnte sich ritterlich mit seinem Feinde und fühlte sich von Stund an wohl aufgenommen in diesem Kreise.
Zweites Kapitel
Wenn er indessen mit allen gut Freund war, einen wirklichen Freund fand er doch nicht so bald; es war keiner unter den Mitschülern, dem er sich besonders verwandt oder gar zugeneigt fühlte. Sie aber waren verwundert, in dem schneidigen Faustkämpfer, den sie geneigt waren für einen liebenswerten Raufbold zu halten, einen sehr friedfertigen Kollegen zu finden, der eher nach dem Ruhm eines Musterschülers zu streben schien.
Zwei Menschen im Kloster gab es, zu denen Goldmund sein Herz hingezogen fühlte, die ihm gefielen, die seine Gedanken beschäftigten, für die er Bewunderung, Liebe und Ehrfurcht fühlte: den Abt Daniel und den Lehrgehilfen Narziss. Den Abt war er geneigt für einen Heiligen zu halten, seine Einfalt und Güte, sein klarer, sorglicher Blick, seine Art, das Befehlen und Regieren demütig als einen Dienst zu vollziehen, seine guten, stillen Gebärden, das alles zog ihn gewaltig an. Am liebsten wäre er der persönliche Diener dieses Frommen geworden, wäre immer gehorchend und dienend um ihn gewesen, hätte all seinen knabenhaften Drang nach Devotion und Hingabe ihm als beständiges Opfer dargebracht und ein reines, edles, heiligmäßiges Leben von ihm gelernt. Denn Goldmund war gesonnen, nicht nur die Klosterschule zu absolvieren, sondern womöglich ganz und für immer im Kloster zu bleiben und sein Leben Gott zu weihen; so war es sein Wille, so war es seines Vaters Wunsch und Gebot, und so war es wohl von Gott selbst bestimmt und gefordert. Niemand schien es dem schönen, strahlenden Knaben anzusehen, und doch lag eine Bürde auf ihm, eine Bürde der Herkunft, eine geheime Bestimmung zu Sühne und Opfer. Auch der Abt sah es nicht, obwohl Goldmunds Vater ihm einige Andeutungen gemacht und deutlich den Wunsch geäußert hatte, sein Sohn möge für immer hier im Kloster bleiben. Irgendein geheimer Makel schien an der Geburt Goldmunds zu haften, irgend etwas Verschwiegenes schien Sühne zu fordern. Aber der Vater hatte dem Abt nur wenig gefallen, er hatte seinen Worten und seinem ganzen etwas wichtigtuerischen Wesen höfliche Kühle entgegengestellt und seinen Andeutungen keine große Bedeutung eingeräumt.[15]
Jener andere, der Goldmunds Liebe erweckt hatte, sah schärfer und ahnte mehr, aber er hielt sich zurück. Narziss hatte recht wohl bemerkt, welch ein holder Goldvogel ihm da zugeflogen war. Er, der in seiner Vornehmheit Vereinsamte, hatte alsbald in Goldmund den Verwandten gewittert, obwohl er in allem sein Gegenspiel zu sein schien. Wie Narziss dunkel und hager, so war Goldmund leuchtend und blühend. Wie Narziss ein Denker und Zergliederer, so schien Goldmund ein Träumer und eine kindliche Seele zu sein. Aber die Gegensätze überspannte ein Gemeinsames: beide waren sie vornehme Menschen, beide waren sie durch sichtbare Gaben und Zeichen vor den andern ausgezeichnet, und beide hatten sie vom Schicksal eine besondere Mahnung mitbekommen.
Brennend nahm Narziss an dieser jungen Seele teil, deren Art und Schicksal er bald erkannt hatte. Glühend bewunderte Goldmund seinen schönen, überlegen klugen Lehrer. Aber Goldmund war schüchtern; er fand keine andere Weise, um Narziss zu werben, als dass er sich bis zur Übermüdung bemühte, ein aufmerksamer und gelehriger Schüler zu sein. Und nicht die Schüchternheit allein hielt ihn zurück. Es hielt ihn auch zurück ein Gefühl dafür, dass Narziss eine Gefahr für ihn sei. Er konnte nicht den guten demütigen Abt zum Ideal und Vorbild haben und zugleich den überklugen, gelehrten, scharfgeistigen Narziss. Und dennoch strebte er mit allen Seelenkräften seiner Jugend beiden Idealen nach, den unvereinbaren. Oft machte ihn das leiden. Manchmal in den ersten Monaten seiner Schülerzeit fühlte Goldmund sich so im Herzen verwirrt und hin und her gerissen, dass er stark in Versuchung kam, davonzulaufen oder im Umgang mit den Kameraden seine Not und seinen inneren Zorn auszulassen. Oft wurde er, der Gutmütige, auf irgendeine kleine Hänselei oder Schülerfrechheit hin urplötzlich so aufflammend wild und böse, dass er nur mit äußerster Anstrengung sich halten und sich, mit geschlossenen Augen und leichenblass, schweigend abwenden konnte. Dann suchte er in der Stallung das Pferd Bless auf, lehnte den Kopf an seinen Hals, küsste es, weinte bei ihm. Und allmählich nahm sein Leiden zu und wurde bemerkbar. Seine Wangen wurden schmal, sein Blick erloschen, sein von allen geliebtes Lachen selten geworden. Er selbst wusste nicht, wie es um ihn stehe. Es war sein ehrlicher Wunsch und Wille, ein guter Schüler zu sein, bald ins Noviziat aufgenommen und dann ein frommer, stiller Bruder der Patres zu werden; er glaubte daran, dass alle seine Kräfte und Gaben diesem frommen sanften Ziele zustrebten, er wusste nichts von anderen Strebungen. Wie seltsam und traurig war es ihm darum, sehen zu müssen, dass dies einfache und schöne Ziel so schwer zu erreichen sei. Wie entmutigt und befremdet nahm er zuweilen tadelnswerte Neigungen und Zustände an sich wahr: Zerstreutheit und Widerwillen beim Lernen, Träumen und Phantasieren oder Schläfrigkeit während der Lektionen, Auflehnung und Abneigung gegen den Lateinlehrer, Reizbarkeit und zornige Ungeduld gegen die Mitschüler. Und das Verwirrendste war dies, dass seine Liebe zu Narziss sich so schlecht mit seiner Liebe zum Abt Daniel vertragen wollte. Dabei glaubte er manchmal mit innerster Gewissheit zu spüren, dass auch Narziss ihn liebe, dass er an ihm teilnehme und auf ihn warte.