Im Krankenbett lag Goldmund und suchte sich aus seiner Verwirrung zurückzufinden. Vor einer Stunde vielleicht hätte er sich klarzumachen vermocht, was ihn heute so unsäglich müde machte, was für eine tödliche Überanstrengung der Seele es war, die ihm den Kopf leer und die Augen brennen machte. Es war die gewaltsame, in jeder Minute erneute, in jeder Minute missglückende Anstrengung, den gestrigen Abend zu vergessen – vielmehr nicht den Abend, nicht den törichten und hübschen Ausflug aus dem geschlossenen Kloster, nicht die Wanderung im Walde, noch den schlüpfrigen Notsteg über den schwarzen Mühlbach oder das Aus- und Einsteigen über Zäune, durch Fenster und Gänge, sondern einzig den Augenblick an jenem dunklen Küchenfenster, den Atem und die Worte des Mädchens, den Griff ihrer Hände, den Kuss ihrer Lippen.
Aber jetzt war noch etwas hinzugekommen, ein neuer Schreck, ein neues Erlebnis. Narziss hatte sich seiner angenommen, Narziss liebte ihn, Narziss hatte sich um ihn bemüht – er, der Feine, Vornehme, der Kluge mit dem schmalen, leicht spöttischen Munde. Und er, er hatte sich vor ihm gehen lassen, war beschämt und stammelnd und schließlich heulend vor ihm gestanden! Statt diesen Überlegenen mit den edelsten Waffen zu gewinnen, mit Griechisch, mit Philosophie, mit geistigem Heldentum und würdiger Stoa[19], war er schwach und jämmerlich vor ihm zusammengebrochen! Nie würde er sich das verzeihen, nie würde er ihm ohne Scham ins Auge sehen können.
Aber mit dem Weinen war die große Spannung entladen, die stille Stubeneinsamkeit, das gute Bett tat wohl, der Verzweiflung war mehr als die halbe Kraft geraubt. Nach einem Stündchen kam ein dienender Bruder herein, brachte eine Mehlsuppe, ein Stückchen Weißbrot und einen kleinen Becher roten Wein dazu, den die Schüler sonst nur an Festtagen bekamen, und Goldmund aß und trank, aß den Teller halb leer, stellte ihn weg, fing wieder zu denken an, aber es ging nicht; er holte den Teller wieder her, aß nochmals einige Löffel voll. Und als etwas später die Türe leise aufgetan wurde und Narziss hereinkam, um nach dem Kranken zu sehen, lag er und schlief und hatte schon wieder Rot auf den Wangen. Lange betrachtete ihn Narziss, mit Liebe, mit forschender Neugierde und auch mit etwas Neid. Er sah: Goldmund war nicht krank, er würde ihm morgen keinen Wein mehr zu schicken brauchen. Aber er wusste, der Bann sei gebrochen, sie würden Freunde sein. Mochte heute Goldmund es sein, der seiner bedurfte, dem er Dienste erweisen konnte. Ein andermal würde vielleicht er selbst es sein, der schwach wäre und einer Hilfe, einer Liebe bedürfte. Und von diesem Knaben würde er sie annehmen können, wenn es einmal dahin kommen sollte.
Drittes Kapitel
Eine wunderliche Freundschaft war es, welche zwischen Narziss und Goldmund begann; wenigen nur gefiel sie, und manchmal konnte es so scheinen, als missfiele sie den beiden selbst.
Narziss, der Denker, hatte es damit zunächst am schwersten. Ihm war alles Geist, auch die Liebe; es war ihm nicht gegeben, gedankenlos sich einer Anziehung anheimzugeben. Er war in dieser Freundschaft der führende Geist, und lange Zeit war er es allein, der Schicksal, Umfang und Sinn dieser Freundschaft bewusst erkannte. Lange Zeit blieb er einsam mitten im Lieben und wusste, dass der Freund ihm erst dann wirklich angehören werde, wenn er ihn zur Erkenntnis würde geführt haben. Innig und glühend, spielend und rechenschaftslos gab Goldmund sich dem neuen Leben hin; wissend und verantwortlich nahm Narziss das hohe Schicksal an.
Für Goldmund war es zuerst eine Erlösung und Genesung. Sein junges Liebesbedürfnis war soeben, durch den Anblick und Kuss eines hübschen Mädchens, mächtig aufgeweckt und zugleich hoffnungslos zurückgeschreckt worden. Denn dies fühlte er im Innersten, dass all sein bisheriger Lebenstraum, alles, woran er glaubte, alles, wozu er sich bestimmt und berufen meinte, durch jenen Kuss im Fenster, durch den Blick jener dunklen Augen an der Wurzel gefährdet war. VomVater zum Mönchsleben bestimmt, mit ganzem Willen diese Bestimmung annehmend, mit der Glut erster Jugendinbrunst einem frommen und asketisch-heldischen Ideal zugewandt, hatte er bei der ersten flüchtigen Begegnung, beim ersten Anruf des Lebens an seine Sinne, beim ersten Gruß des Weiblichen unweigerlich gespürt, dass hier sein Feind und Dämon stehe, dass das Weib seine Gefahr sei. Und jetzt bot ihm das Schicksal eine Rettung, jetzt kam, in der dringendsten Not, diese Freundschaft ihm entgegen und bot seinem Verlangen einen blühenden Garten, seiner Ehrfurcht einen neuen Altar. Hier war ihm zu lieben erlaubt, war ihm erlaubt, ohne Sünde sich hinzugeben, sein Herz einem bewunderten, älteren, klügeren Freunde zu schenken, die gefährlichen Flammen der Sinne in edle Opferfeuer zu verwandeln, zu vergeistigen.
Schon im ersten Frühling dieser Freundschaft aber stieß er auf wunderliche Hemmnisse, auf unerwartete, rätselhafte Kälten, auf erschreckende Forderungen. Denn ihm lag es ferne, sich seinen Freund als Widerspiel und Gegenpol zu denken. Ihm schien, es bedürfe ja nur der Liebe, nur der aufrichtigen Hingabe, um aus zweien eins zu machen, um Unterschiede auszulöschen und Gegensätze zu überbrücken.
Wie herb und sicher, wie klar und unerbittlich aber war dieser Narziss! Ihm schien ein harmloses Sichhingeben, ein dankbares gemeinsames Wandern im Lande der Freundschaft unbekannt und unerwünscht zu sein. Wege ohne Ziel, träumerisches Dahinwandeln schien er nicht zu kennen, nicht zu dulden. Wohl hatte er sich, als Goldmund krank schien, um ihn besorgt gezeigt, wohl half und riet er ihm getreulich in allen Angelegenheiten der Schule und Gelehrsamkeit, erklärte ihm schwierige Stellen der Bücher, öffnete ihm Blicke ins Reich der Grammatik, der Logik, der Theologie; aber niemals schien er so recht mit dem Freunde zufrieden und einverstanden, ja oft genug schien er ihn zu belächeln und nicht ernst zu nehmen. Goldmund fühlte zwar, dass dies nicht bloße Schulmeisterei sei, nicht bloßes Wichtigtun des Älteren und Gescheiteren, dass etwas anderes dahinterstehe, etwas Tieferes, Wichtigeres. Erkennen aber konnte er dies Tiefere nicht, und so machte seine Freundschaft ihn oft traurig und ratlos.
In Wirklichkeit wusste Narziss recht wohl, was an seinem Freunde sei, er war nicht blind für seine blühende Schönheit, noch für seine naturhafte Lebenskraft und blumige Fülle. Er war keineswegs ein Schulmeister, der eine glühende junge Seele mit Griechisch füttern, eine unschuldige Liebe mit Logik beantworten wollte. Allzusehr vielmehr liebte er den blonden Jüngling, und für ihn war dies eine Gefahr; denn Lieben war für ihn kein natürlicher Zustand, sondern ein Wunder. Er durfte sich nicht verlieben, sich nicht mit dem wohligen Anschauen dieser hübschen Augen, mit der Nähe dieser blühenden lichten Blondheit begnügen, er durfte dieser Liebe nicht erlauben, auch nur einen Augenblick beim Sinnlichen zu verweilen. Denn wenn Goldmund sich zum Mönch und Asketen und zu einem lebenslangen Streben nach Heiligkeit bestimmt fühlte – Narziss war wirklich zu einem solchen Leben bestimmt. Ihm war Lieben nur in einer einzigen, der höchsten Form erlaubt. An Goldmunds Bestimmung zum Asketen aber glaubte Narziss nicht. Deutlicher als ein anderer verstand er in Menschen zu lesen, und hier, wo er liebte, las er mit gesteigerter Klarheit. Er sah Goldmunds Natur, die er trotz des Gegensatzes innigst verstand; denn sie war die andere, verlorene Hälfte seiner eigenen. Er sah diese Natur von einer harten Schale umpanzert, von Einbildungen, Erziehungsfehlern, Vaterworten, und ahnte längst das ganze, nicht komplizierte Geheimnis dieses jungen Lebens. Seine Aufgabe war ihm klar: dies Geheimnis seinem Träger zu enthüllen, ihn von der Schale zu befreien, ihm seine eigentliche Natur zurückzugeben. Es würde schwer sein, und das Schwerste daran war, dass ihm der Freund vielleicht darüber verloren gehen würde.
Unendlich langsam rückte er dem Ziele näher. Monate vergingen, ehe auch nur ein ernster Angriff, ein tiefgreifendes Gespräch zwischen beiden möglich wurde. So weit waren sie, trotz aller Freundschaft, auseinander, so weit war der Bogen zwischen beiden gespannt. Ein Sehender und ein Blinder, so gingen sie nebeneinander; dass der Blinde von seiner eigenen Blindheit nichts wusste, war nur für diesen selbst eine Erleichterung.
19
Stoa