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»Er ist achtzehn.«

»Achtzehn. Nun ja. Spät genug. Aber diese Kämpfe sind ja etwas Natürliches, was jeder durchmachen muß. Darum kann man ihn doch nicht krank an der Seele nennen.«

»Nein, gnädiger Vater, darum allein nicht. Aber Goldmund war schon vorher seelenkrank, schon lange, darum sind diese Kämpfe für ihn gefährlicher als für andere. Er leidet, wie ich glaube, daran, daß er einen Teil seiner Vergangenheit vergessen hat.«

»So? Was ist das für ein Teil?«

»Es ist seine Mutter und alles, was mit ihr zusammenhängt. Auch ich weiß darüber nichts, ich weiß nur, daß dort die Quelle seiner Krankheit liegen muß. Goldmund nämlich weiß angeblich nichts von seiner Mutter, als daß er sie früh verloren hat. Es macht aber den Eindruck, als schäme er sich ihrer. Und doch muß sie es sein, von der er die meisten seiner Gaben geerbt hat; denn was er über seinen Vater zu sagen hat, läßt diesen Vater nicht als den Mann erscheinen, der einen so hübschen, vielbegabten und eigenartigen Sohn hat. Ich weiß dies alles nicht aus Berichten, ich schließe es aus Anzeichen.«

Der Abt, der anfangs diese Reden als altklug und überheblich in sich etwas belächelt hatte und dem die ganze Sache lästig und bemühend war, begann nachzudenken. Er erinnerte sich an Goldmunds Vater, an jenen etwas geschraubten und unverdaulichen Mann, und erinnerte sich jetzt auch, da er danach suchte, plötzlich wieder einiger Worte, die er damals über Goldmunds Mutter zu ihm geäußert hatte. Sie habe ihm Schande gemacht und sei ihm davongelaufen, hatte er gesagt, und er habe sich Mühe gegeben, in dem Söhnchen die Erinnerung an die Mutter und die etwaigen von ihr vererbten Laster zu unterdrücken. Dies sei auch wohl gelungen, und der Knabe sei willens, zur Sühnung dessen, was die Mutter gefehlt, sein Leben Gott darzubringen.

Nie hatte Narziß dem Abt so wenig gefallen wie heute. Und dennoch – wie gut hatte dieser Grübler geraten, wie gut schien er in der Tat Goldmund zu kennen!

Zum Schlüsse nochmals über die heutigen Vorgänge befragt, sagte Narziß: »Die heftige Erschütterung, in welche Goldmund heute geraten ist, war nicht von mir beabsichtigt. Ich habe ihn daran erinnert, daß er sich selbst nicht kennt, daß er seine Kindheit vergessen hat und seine Mutter. Irgendeines meiner Worte muß ihn getroffen haben und in das Dunkel gedrungen sein, gegen das ich schon so lange kämpfe. Er war wie entgeistert, er sah mich an, als kenne er mich und sich selbst nicht mehr. Ich habe ihm oft gesagt, er schlafe, er sei nicht richtig wach. Jetzt ist er geweckt worden, daran zweifle ich nicht.«

Er wurde entlassen, ohne Rüge, doch mit dem vorläufigen Verbot, den Kranken aufzusuchen.

Inzwischen hatte Pater Anselm den Ohnmächtigen auf ein Bett legen lassen und saß bei ihm. Ihn durch gewaltsame Mittel ins Bewußtsein zurückzuschrecken, schien ihm nicht geraten. Der Junge sah allzu schlecht aus. Wohlwollend blickte der alte Mann aus dem faltigen guten Gesicht auf den Jüngling. Vorläufig untersuchte er den Puls und horchte am Herzen. Gewiß, dachte er, hatte der Bursche irgend etwas Unmögliches gegessen, einen Haufen Sauerklee oder sonst etwas Dummes, man kannte das ja. Die Zunge konnte er nicht sehen. Er mochte Goldmund gern, aber seinen Freund, diesen frühreifen allzu jungen Lehrer, konnte er nicht leiden. Da hatte man es nun. Sicher war Narziß an dieser dummen Geschichte mitschuldig. Was brauchte auch so ein frischer, helläugiger Junge, so ein liebes Naturkind sich ausgerechnet mit diesem hochmütigen Gelehrten einzulassen, mit diesem eitlen Grammatiker, dem sein Griechisch wichtiger war als alles Lebendige auf der Welt! Als nach langer Zeit die Tür sich öffnete und der Abt hereinkam, saß der Pater noch immer und starrte in das Gesicht des Ohnmächtigen. Was war das für ein liebes, junges, argloses Gesicht, und da saß man nun daneben, sollte helfen und würde es wahrscheinlich nicht können. Gewiß, die Ursache konnte eine Kolik sein, er würde Glühwein verordnen, vielleicht Rhabarber. Aber je länger er in das grünbleiche, verzogene Gesicht blickte, desto mehr neigte sich sein Verdacht nach einer anderen Seite, einer bedenklicheren. Pater Anselm hatte Erfahrung. Mehrmals im Laufe seines langen Lebens hatte er Besessene gesehen. Er zögerte damit, den Verdacht auch nur vor sich selbst auszusprechen. Er würde warten und beobachten. Aber, dachte er grimmig, wenn dieser arme Junge wirklich verhext worden war, so würde man den Schuldigen wohl nicht weit zu suchen haben, und es sollte ihm nicht gut gehen. Der Abt trat näher, sah sich den Kranken an, hob ihm sachte ein Augenlid etwas in die Höhe.

»Kann man ihn erwecken?« fragte er.

»Ich möchte noch warten. Das Herz ist gesund. Wir dürfen niemand zu ihm lassen.«

»Ist Gefahr?«

»Ich glaube nicht. Nirgends Verletzungen, keine Spuren von Schlag oder Sturz. Er ist ohnmächtig, vielleicht war es eine Kolik. Bei sehr starken Schmerzen verliert man das Bewußtsein. Wenn es eine Vergiftung wäre, käme Fieber. Nein, er wird wieder aufwachen und am Leben bleiben.«

»Kann es nicht vom Gemüt her gekommen sein?«

»Ich will es nicht verneinen. Weiß man denn nichts? Hat er vielleicht einen starken Schrecken gehabt? Eine Todesnachricht? Einen heftigen Streit, eine Beleidigung? Dann wäre alles erklärt.«

»Wir wissen es nicht. Traget Sorge, daß niemand zu ihm gelassen wird. Ich bitte Euch, bei ihm zu bleiben, bis er erwacht. Sollte es schlimm werden, so rufet mich, auch wenn es in der Nacht wäre.«

Vor dem Weggehen beugte der Greis sich nochmals über den Kranken; er dachte an dessen Vater und dachte an den Tag, an dem dieser hübsche heitere Blondkopf ihm zugebracht worden war, und wie sie alle ihn gleich gern gehabt hatten. Auch er hatte ihn gern gesehen. Aber darin hatte Narziß wirklich recht: in nichts erinnerte dieser Knabe an seinen Vater! Ach, wieviel Sorgen überall, wie unzulänglich war all unser Tun! Hatte er nicht vielleicht an diesem armen Knaben etwas versäumt? Hatte er den richtigen Beichtvater gehabt? War es in Ordnung, daß niemand im Hause über diesen Schüler so gut Bescheid wußte wie Narziß? Konnte denn der ihm helfen, der noch im Noviziat stand, der weder Bruder war noch die Weihen hatte und dessen Gedanken und Anschauungen alle etwas so unangenehm Überlegenes, ja fast Feindseliges hatten. Weiß Gott, ob nicht auch Narziß seit langem falsch behandelt worden war? Weiß Gott, ob er nicht hinter der Maske des Gehorsams Schlimmes verbarg, vielleicht ein Heide war? Und alles, was aus diesen beiden jungen Menschen einst werden würde, dafür war er mitverantwortlich.

Als Goldmund zu sich kam, war es dunkel. Er fühlte seinen Kopf leer und schwindlig. Er fühlte sich in einem Bett liegen, er wußte nicht, wo er war, er dachte auch nicht darüber nach, es war ihm gleichgültig. Aber wo war er gewesen? Wo kam er her, aus welcher Fremde von Erlebnissen? Er war irgendwo gewesen, sehr weit fort, er hatte etwas gesehen, etwas Außerordentliches, etwas Herrliches, etwas Furchtbares auch und Unvergeßliches – und doch hatte er es vergessen. Wo war es? Was war da vor ihm aufgetaucht, so groß, so schmerzlich, so selig, und war wieder hingeschwunden?

Tief horchte er in sich hinein, dorthin, wo heute etwas aufgebrochen, etwas geschehen war – was war es gewesen? Wüste Bilderknäuel wälzten sich herauf, er sah Hundeköpfe, drei Hundeköpfe, und er roch den Duft von Rosen. O wie weh war ihm gewesen! Er schloß die Augen. O wie furchtbar weh war ihm gewesen! Er schlief wieder ein.

Wieder erwachte er, und eben noch im Entschwinden der eilig weggleitenden Traumwelt sah er es, fand das Bild wieder und zuckte wie in schmerzlicher Wollust zusammen. Er sah, er war sehend geworden. Er sah Sie. Er sah die Große, Strahlende, mit dem voll blühenden Munde, mit den leuchtenden Haaren. Er sah seine Mutter. Zugleich meinte er eine Stimme zu hören: »Du hast deine Kindheit vergessen.«

Wessen Stimme war doch dies? Er horchte, er sann und fand. Es war Narziß. Narziß? Und in einem Augenblick, mit einem jähen Ruck war alles wieder da: er erinnerte sich, er war wissend. O Mutter, Mutter! Berge von Schutt, Meere von Vergessenheit waren weg, waren verschwunden; aus königlichen, hellblauen Augen blickte die Verlorene ihn wieder an, die unsäglich Geliebte.

Pater Anselm, der im Lehnstuhl neben dem Bett eingeschlummert war, erwachte. Er hörte den Kranken sich bewegen, hörte ihn atmen. Vorsichtig erhob er sich.

»Ist jemand da?« fragte Goldmund.

»Ich bin es, sei ohne Sorge. Ich mache Licht.«

Er brachte die Ampel zum Brennen, der Schein fiel über sein faltiges wohlwollendes Gesicht.

»Bin ich denn krank?« fragte der Jüngling.

»Du bist ohnmächtig gewesen, mein Söhnchen. Gib mir die Hand, wir wollen nach dem Puls sehen. Wie fühlst du dich?«

»Gut. Ich danke Euch, Pater Anselm, Ihr seid sehr gütig. Es fehlt mir nichts mehr, ich bin nur müde.«

»Natürlich bist du müde. Bald wirst du wieder schlafen. Nimm vorher einen Schluck heißen Wein, er steht bereit. Wir wollen einen Becher miteinander leeren, mein Junge, auf gute Kameradschaft.«

Sorglich hatte er ein Krüglein Glühwein bereit gehalten und in ein Gefäß mit heißem Wasser gestellt.

»Da haben wir also beide eine ganze Weile geschlafen«, lachte der Arzt. »Ein feiner Krankenwärter, wirst du denken, der sich nicht munter halten kann. Na ja, wir sind Menschen. Jetzt trinken wir ein wenig von diesem Zaubertrank, mein Kleiner, nichts Hübscheres als so eine kleine heimliche Zecherei in der Nacht. Also Prosit!«