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Viel vergessene Kindheit kam in diesen Mutterträumen herauf, aus unendlichen Tiefen und Verlorenheiten blühten viele kleine Erinnerungsblumen, blickten goldig, dufteten ahnungsvoll, Erinnerungen an Gefühle der Kindheit, vielleicht an Erlebnisse, vielleicht an Träume. Von Fischen träumte er zuweilen, die schwammen schwarz und silbern auf ihn zu, kühl und glatt, schwammen in ihn hinein, durch ihn hindurch, kamen wie Boten mit holden Glücksnachrichten aus einer schöneren Wirklichkeit, schwanden schwänzelnd und schattenhaft, waren dahin, hatten statt Botschaft neue Geheimnisse gebracht. Oft träumte er schwimmende Fische und fliegende Vögel, und jeder Fisch oder Vogel war sein Geschöpf, war von ihm abhängig und lenkbar wie sein Atemzug, strahlte wie ein Blick, wie ein Gedanke von ihm aus, kehrte in ihn zurück. Von einem Garten träumte er oft, einem Zaubergarten mit märchenhaften Bäumen, übergroßen Blumen, tiefen blaudunklen Höhlen; zwischen den Gräsern blickten funkelnde Augen unbekannter Tiere, an den Ästen glitten glatte sehnige Schlangen; an Reben und Gesträuchen hingen groß und feuchtglänzend riesige Beeren, die schwollen beim Pflücken in seiner Hand und vergossen warmen Saft wie Blut oder hatten Augen und bewegten sie schmachtend und listig; er lehnte sich tastend an einen Baum, griff nach einem Ast und sah und fühlte zwischen Stamm und Ast ein Gekräusel wirrer dichter Haare nisten wie das Haar in der Höhle einer Achsel. Einmal träumte er von sich selber oder von seinem Namensheiligen, träumte von Goldmund, Chrysostomus, der hatte einen Mund aus Gold und sprach mit dem goldenen Munde Worte, und die Worte waren kleine schwärmende Vögel, in flatternden Scharen flogen sie davon.

Einmal träumte er: er war groß und erwachsen, saß aber wie ein Kind am Boden, hatte Lehm vor sich und knetete wie ein Kind aus dem Lehm Figuren: ein Pferdchen, einen Stier, einen kleinen Mann, eine kleine Frau. Das Kneten machte ihm Spaß, und er machte den Tieren und Männern lächerlich große Geschlechtsteile, im Traume kam ihm das sehr witzig vor. Dann wurde er des Spiels müde und ging weiter, da fühlte er hinter sich etwas leben, etwas Lautloses, Großes sich nähern, und sah zurück, und sah mit tiefem Erstaunen und mit großem Schrecken, der aber nicht ohne Freude war, seine kleinen Lehmfiguren groß und lebendig geworden. Gewaltig groß, stumme Riesen, marschierten die Figuren an ihm vorbei, noch immer wachsend, riesig und schweigend zogen sie weiter, in die Welt hinein, hoch wie Türme.

In dieser Traumwelt lebte er mehr als in der wirklichen. Die wirkliche Welt: Schulsaal, Klosterhof, Bibliothek, Schlafsaal und Kapelle, war nur Oberfläche, nur eine dünne zitternde Haut über der traumgefüllten, überwirklichen Bilderwelt. Ein Nichts war genug, um in diese dünne Haut ein Loch zu stoßen: etwas Ahnungsvolles im Klang eines griechischen Wortes mitten in der nüchternen Lektion, eine Welle Duft aus der Kräutertasche des botanisierenden Pater Anselm, der Blick auf eine steinerne Blattranke, die oben aus der Säule eines Fensterbogens quoll – solche kleine Anreize genügten schon, um die Haut der Wirklichkeit zu durchstoßen und hinter der friedlich dürren Wirklichkeit die tosenden Abgründe, Ströme und Milchstraßen jener Seelenbilderwelt zu entfesseln. Ein lateinisches Initial wurde zum duftenden Gesicht der Mutter, ein langgezogener Ton im Ave zum Paradiestor, ein griechischer Buchstabe zum rennenden Pferd, zur bäumenden Schlange, still wälzte sie sich unter Blumen davon, und schon stand an ihrer Stelle wieder die starre Seite der Grammatik.

Selten sprach er davon, nur wenige Male gab er Narziß eine Andeutung von dieser Traumwelt.

»Ich glaube«, sagte er einmal, »daß ein Blumenblatt oder ein kleiner Wurm auf dem Wege viel mehr sagt und enthält als alle Bücher der ganzen Bibliothek. Mit Buchstaben und mit Worten kann man nichts sagen. Manchmal schreibe ich irgendeinen griechischen Buchstaben, ein Theta oder Omega, und indem ich die Feder ein klein wenig drehe, schwänzelt der Buchstabe und ist ein Fisch und erinnert in einer Sekunde an alle Bäche und Ströme der Welt, an alles Kühle und Feuchte, an den Ozean Homers und an das Wasser, auf dem Petrus wandelte, oder der Buchstabe wird ein Vogel, stellt den Schwanz, sträubt die Feder, bläst sich auf, lacht, fliegt davon. – Nun, Narziß, du hältst wohl nicht viel von solchen Buchstaben? Aber ich sage dir: mit ihnen schrieb Gott die Welt.«

»Ich halte viel von ihnen«, sagte Narziß traurig. »Es sind Zauberbuchstaben, man kann alle Dämonen mit ihnen beschwören. Nur freilich zum Betreiben der Wissenschaften sind sie ungeeignet. Der Geist liebt das Feste, Gestaltete, er will sich auf seine Zeichen verlassen können, er liebt das Seiende, nicht das Werdende, das Wirkliche und nicht das Mögliche. Er duldet nicht, daß ein Omega eine Schlange oder ein Vogel werde. In der Natur kann der Geist nicht leben, nur gegen sie, nur als ihr Gegenspiel. Glaubst du mir jetzt, Goldmund, daß du nie ein Gelehrter sein wirst?«

O ja, Goldmund glaubte es längst, er war damit einverstanden.

»Ich bin gar nicht mehr in das Streben nach eurem Geist verbissen«, sagte er, halb lachend. »Es geht mir mit dem Geist und mit der Gelehrsamkeit ähnlich, wie es mir mit meinem Vater gegangen ist: ich glaubte ihn sehr zu lieben und ihm ähnlich zu sein, ich schwor auf alles, was er sagte. Aber kaum war meine Mutter wieder da, so wußte ich erst wieder, was Liebe ist, und neben ihrem Bild war das des Vaters plötzlich klein und unfroh und beinah widerwärtig geworden. Und jetzt neige ich dazu, alles Geistige als väterlich, als unmütterlich und mutterfeindlich anzusehen und es ein wenig gering zu achten.«

Er sprach scherzend, doch gelang es ihm nicht, seines Freundes trauriges Gesicht heiter zu machen. Narziß sah ihn schweigend an, sein Blick war wie eine Liebkosung! Dann sagte er: »Ich verstehe dich wohl. Wir brauchen jetzt nicht mehr zu streiten; du bist erwacht, und du hast ja jetzt auch den Unterschied zwischen dir und mir erkannt, den Unterschied zwischen mütterlichen und väterlichen Herkünften, zwischen Seele und Geist. Und nun wirst du ja wohl bald auch das noch erkennen, daß dein Leben im Kloster und dein Streben nach einem mönchischen Leben ein Irrtum war, eine Erfindung deines Vaters, der damit das Andenken deiner Mutter entsündigen oder auch nur sich an ihr rächen wollte. Oder glaubst du noch immer, daß es deine Bestimmung sei, dein ganzes Leben im Kloster zu bleiben?«

Nachdenklich betrachtete Goldmund seines Freundes Hände, diese vornehmen, ebenso strengen wie zarten, mageren und weißen Hände. Niemand konnte bezweifeln, daß dies Asketen- und Gelehrtenhände seien.

»Ich weiß nicht«, sagte er mit der singenden, etwas zögernden, lang auf jedem Laut verweilenden Stimme, die er seit einiger Zeit bekommen hatte. »Ich weiß es wirklich nicht. Du urteilst etwas hart über meinen Vater. Er hat es nicht leicht gehabt. Aber vielleicht hast du auch hierin recht. Ich bin seit mehr als drei Jahren hier in der Klosterschule, und er hat mich noch nie besucht. Er hofft, daß ich für immer hierbleiben werde. Vielleicht wäre es das beste, ich habe es ja auch selber immer gewünscht. Aber heut weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich will und wünsche. Früher war alles einfach, so einfach wie die Buchstaben im Lesebuch. Jetzt ist nichts mehr einfach, nicht einmal mehr die Buchstaben. Alles hat viele Bedeutungen und Gesichter bekommen. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, ich kann jetzt nicht an solche Sachen denken.«

»Das sollst du auch nicht«, meinte Narziß. »Es wird sich schon zeigen, wohin dein Weg führt. Er hat begonnen, dich zu deiner Mutter zurückzuführen und wird dich ihr noch näherbringen. Was aber deinen Vater betrifft, so urteile ich über ihn nicht zu hart. Würdest du denn zu ihm zurückkehren wollen?«

»Nein, Narziß, gewiß nicht. Sonst würde ich es tun, sobald ich mit der Schule fertig bin, oder schon jetzt. Denn da ich doch kein Gelehrter werde, habe ich eigentlich Latein, Griechisch und Mathematik genug gelernt. Nein, ich will nicht zum Vater zurück …«

Nachdenklich sah er vor sich hin, und plötzlich rief er: »Aber wie machst du das nur, daß du mir immer wieder Worte sagst oder Fragen stellst, die in mich hineinleuchten und mich mir selbst klarmachen? Auch jetzt wieder war es nur deine Frage, ob ich denn zu meinem Vater würde zurückkehren wollen, die mir plötzlich gezeigt hat, daß ich es nicht will. Wie machst du das? Du scheinst alles zu wissen. Du hast mir manche Worte über dich und mich gesagt, die ich im Augenblick des Hörens gar nicht recht begriff und die mir nachher so wichtig geworden sind! Du warst es, der meine Herkunft eine mütterliche nannte, und du hast entdeckt, daß ich unter einem Bann stand und meine Kindheit vergessen hatte! Woher kennst du die Menschen so gut? Kann ich das nicht auch lernen?«

Narziß schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, mein Lieber, du kannst es nicht. Es gibt Menschen, die viel lernen können, aber du gehörst nicht zu ihnen. Du wirst nie ein Lerner sein. Wozu denn auch? Du hast das nicht nötig. Du hast andere Gaben. Du hast mehr Gaben als ich, du bist reicher als ich und bist auch schwächer, du wirst einen schöneren und schwereren Weg haben als ich. Manchmal wolltest du mich nicht verstehen, oft hast du dich gesträubt wie ein Füllen, es war nicht immer leicht, und oft habe ich dir auch weh tun müssen. Ich mußte dich erwecken, du schliefst ja. Auch daß ich dich an deine Mutter erinnerte, hat zuerst weh getan, sehr weh, man fand dich wie einen Toten im Kreuzgang liegen. Es mußte sein. – Nein, streichle mein Haar nicht! Nein, laß es! Ich kann es nich leiden.«