Eine Stunde war vielleicht vergangen – nie hatte Goldmund eine so lange Stunde erlebt –, da waren Redensarten und Zärtlichkeiten der Schüler erschöpft, es wurde still, und man saß etwas verlegen, Eberhard fing an zu gähnen. Da mahnte die Magd zum Aufbruch. Alle erhoben sich, alle gaben der Magd die Hand, Goldmund zuletzt. Dann gaben sie alle der Jungen die Hand, Goldmund zuletzt. Dann stieg Konrad voran aus dem Fenster, ihm folgten Eberhard und Adolf. Als auch Goldmund hinausstieg, fühlte er sich von einer Hand an der Schulter zurückgehalten. Er konnte nicht anhalten; erst als er draußen am Boden stand, wandte er sich zögernd um. Aus dem Fenster beugte sich die Junge mit den Zöpfen.
»Goldmund!« flüsterte sie. Er blieb stehen.
»Kommst du einmal wieder?« fragte sie. Ihre schüchterne Stimme war nur ein Hauch.
Goldmund schüttelte den Kopf. Sie streckte ihre beiden Hände aus, faßte seinen Kopf, warm fühlte er die kleinen Hände an seinen Schläfen. Sie beugte sich tief herab, bis ihre dunklen Augen dicht vor den seinen waren.
»Komm wieder!« flüsterte sie, und ihr Mund berührte den seinen in einem kindlichen Kuß.
Schnell lief er den andern nach durch den kleinen Garten, taumelte über die Beete, roch feuchte Erde und Mist, riß sich die Hand an einem Rosenstrauch wund, kletterte über den Zaun und trabte den andern nach zum Dorf hinaus, dem Walde entgegen. »Niemals mehr!« sagte befehlend sein Wille. »Morgen wieder!« flehte schluchzend sein Herz.
Niemand begegnete den Nachtvögeln, unbehelligt kamen sie nach Mariabronn zurück, über den Bach, durch die Mühle, über den Lindenplatz und auf Schleichwegen über Vordächer und durch säulengeteilte Fenster ins Kloster und in den Schlafsaal.
Am Morgen mußte der lange Eberhard mit Püffen geweckt werden, so schwer war sein Schlaf. Alle waren sie rechtzeitig in der Frühmesse, bei der Morgensuppe und im Hörsaal; aber Goldmund sah schlecht aus, so schlecht, daß Pater Martin ihn fragte, ob er krank sei. Adolf warf ihm einen warnenden Blick zu, und er sagte, ihm fehle nichts. Im Griechischen aber, gegen Mittag, ließ Narziß ihn nicht aus den Augen. Auch er sah, daß Goldmund krank sei, schwieg aber und beobachtete ihn scharf. Am Ende der Lektion rief er ihn zu sich. Um die Schüler nicht aufmerksam zu machen, schickte er ihn mit einem Auftrag in die Bibliothek. Dorthin ging er ihm nach.
»Goldmund«, sagte er, »kann ich dir beistehen? Ich sehe, daß du in Not bist. Vielleicht bist du krank. Dann legen wir dich zu Bett und schicken dir eine Krankensuppe und ein Glas Wein. Du hast heut keinen Kopf fürs Griechische.«
Lange wartete er auf eine Antwort. Aus verstörten Augen sah der bleiche Knabe zu ihm her, senkte den Kopf, hob ihn wieder, zuckte mit den Lippen, wollte sprechen, konnte es nicht. Plötzlich sank er zur Seite, lehnte den Kopf auf ein Lesepult, zwischen die beiden kleinen Engelsköpfe aus Eichenholz, die das Pult einfaßten, und brach in ein solches Weinen aus, daß Narziß sich verlegen fühlte und eine Weile den Blick abwandte, ehe er den Schluchzenden anfaßte und aufhob.
»Nun ja«, sagte er freundlicher, als Goldmund ihn je hatte sprechen hören, »nun ja, amice, weine nur, es wird dir bald besser sein. So, setz dich, du brauchst nicht zu sprechen. Ich sehe, du hast genug; wahrscheinlich hast du schon den ganzen Morgen Mühe gehabt, dich aufrecht zu halten und dir nichts anmerken zu lassen, sehr brav hast du das gemacht. Weine jetzt nur, es ist das Beste, was du tun kannst. Nein? Schon fertig? Schon wieder aufrecht? Nun ja, dann gehn wir jetzt in die Krankenstube, und du legst dich ins Bett, und heut abend wird dir schon viel besser sein. Komm nur!«
Er führte ihn, unter Umgehung der Schülerstuben, in ein Krankenzimmer, wies ihm eines der beiden leeren Betten an und ging, als Goldmund sich folgsam auszukleiden begann, hinaus, um ihn beim Vorsteher krank zu melden. Er bestellte auch, wie versprochen, eine Suppe und ein Glas Krankenwein für ihn in der Speisung; diese beiden klosterüblichen beneficia waren bei den meisten Leichtkranken sehr beliebt.
Im Krankenbett lag Goldmund und suchte sich aus seiner Verwirrung zurückzufinden. Vor einer Stunde vielleicht hätte er sich klarzumachen vermocht, was ihn heute so unsäglich müde machte, was für eine tödliche Überanstrengung der Seele es war, die ihm den Kopf leer und die Augen brennen machte. Es war die gewaltsame, in jeder Minute erneute, in jeder Minute mißglückende Anstrengung, den gestrigen Abend zu vergessen – vielmehr nicht den Abend, nicht den törichten und hübschen Ausflug aus dem geschlossenen Kloster, nicht die Wanderung im Walde, noch den schlüpfrigen Notsteg über den schwarzen Mühlbach oder das Aus- und Einsteigen über Zäune, durch Fenster und Gänge, sondern einzig den Augenblick an jenem dunklen Küchenfenster, den Atem und die Worte des Mädchens, den Griff ihrer Hände, den Kuß ihrer Lippen.
Aber jetzt war noch etwas hinzugekommen, ein neuer Schreck, ein neues Erlebnis. Narziß hatte sich seiner angenommen, Narziß liebte ihn, Narziß hatte sich um ihn bemüht – er, der Feine, Vornehme, der Kluge mit dem schmalen, leicht spöttischen Munde. Und er, er hatte sich vor ihm gehen lassen, war beschämt und stammelnd und schließlich heulend vor ihm gestanden! Statt diesen Überlegenen mit den edelsten Waffen zu gewinnen, mit Griechisch, mit Philosophie, mit geistigem Heldentum und würdiger Stoa, war er schwach und jämmerlich vor ihm zusammengebrochen! Nie würde er sich das verzeihen, nie würde er ihm ohne Scham ins Auge sehen können.
Aber mit dem Weinen war die große Spannung entladen, die stille Stubeneinsamkeit, das gute Bett tat wohl, der Verzweiflung war mehr als die halbe Kraft geraubt. Nach einem Stündchen kam ein dienender Bruder herein, brachte eine Mehlsuppe, ein Stückchen Weißbrot und einen kleinen Becher roten Wein dazu, den die Schüler sonst nur an Festtagen bekamen, und Goldmund aß und trank, aß den Teller halb leer, stellte ihn weg, fing wieder zu denken an, aber es ging nicht; er holte den Teller wieder her, aß nochmals einige Löffel voll. Und als etwas später die Türe leise aufgetan wurde und Narziß hereinkam, um nach dem Kranken zu sehen, lag er und schlief und hatte schon wieder Rot auf den Wangen. Lange betrachtete ihn Narziß, mit Liebe, mit forschender Neugierde und auch mit etwas Neid. Er sah: Goldmund war nicht krank, er würde ihm morgen keinen Wein mehr zu schicken brauchen. Aber er wußte, der Bann sei gebrochen, sie würden Freunde sein. Mochte heute Goldmund es sein, der seiner bedurfte, dem er Dienste erweisen konnte. Ein andermal würde vielleicht er selbst es sein, der schwach wäre und einer Hilfe, einer Liebe bedürfte. Und von diesem Knaben würde er sie annehmen können, wenn es einmal dahin kommen sollte.
Drittes Kapitel
Eine wunderliche Freundschaft war es, welche zwischen Narziß und Goldmund begann; wenigen nur gefiel sie, und manchmal konnte es so scheinen, als mißfiele sie den beiden selbst.
Narziß, der Denker, hatte es damit zunächst am schwersten. Ihm war alles Geist, auch die Liebe; es war ihm nicht gegeben, gedankenlos sich einer Anziehung anheimzugeben. Er war in dieser Freundschaft der führende Geist, und lange Zeit war er es allein, der Schicksal, Umfang und Sinn dieser Freundschaft bewußt erkannte. Lange Zeit blieb er einsam mitten im Lieben und wußte, daß der Freund ihm erst dann wirklich angehören werde, wenn er ihn zur Erkenntnis würde geführt haben. Innig und glühend, spielend und rechenschaftslos gab Goldmund sich dem neuen Leben hin; wissend und verantwortlich nahm Narziß das hohe Schicksal an.
Für Goldmund war es zuerst eine Erlösung und Genesung. Sein junges Liebesbedürfnis war soeben, durch den Anblick und Kuß eines hübschen Mädchens, mächtig aufgeweckt und zugleich hoffnungslos zurückgeschreckt worden. Denn dies fühlte er im Innersten, daß all sein bisheriger Lebenstraum, alles, woran er glaubte, alles, wozu er sich bestimmt und berufen meinte, durch jenen Kuß im Fenster, durch den Blick jener dunklen Augen an der Wurzel gefährdet war. Vom Vater zum Mönchsleben bestimmt, mit ganzem Willen diese Bestimmung annehmend, mit der Glut erster Jugendinbrust einem frommen und asketisch-heldischen Ideal zugewandt, hatte er bei der ersten flüchtigen Begegnung, beim ersten Anruf des Lebens an seine Sinne, beim ersten Gruß des Weiblichen unweigerlich gespürt, daß hier sein Feind und Dämon stehe, daß das Weib seine Gefahr sei. Und jetzt bot ihm das Schicksal eine Rettung, jetzt kam, in der dringendsten Not, diese Freundschaft ihm entgegen und bot seinem Verlangen einen blühenden Garten, seiner Ehrfurcht einen neuen Altar. Hier war ihm zu lieben erlaubt, war ihm erlaubt, ohne Sünde sich hinzugeben, sein Herz einem bewunderten, älteren, klügeren Freunde zu schenken, die gefährlichen Flammen der Sinne in edle Opferfeuer zu verwandeln, zu vergeistigen.
Schon im ersten Frühling dieser Freundschaft aber stieß er auf wunderliche Hemmnisse, auf unerwartete, rätselhafte Kälten, auf erschreckende Forderungen. Denn ihm lag es ferne, sich seinen Freund als Widerspiel und Gegenpol zu denken. Ihm schien, es bedürfe ja nur der Liebe, nur der aufrichtigen Hingabe, um aus zweien eins zu machen, um Unterschiede auszulöschen und Gegensätze zu überbrücken. Wie herb und sicher, wie klar und unerbittlich aber war dieser Narziß! Ihm schien ein harmloses Sichhingeben, ein dankbares gemeinsames Wandern im Lande der Freundschaft unbekannt und unerwünscht zu sein. Wege ohne Ziel, träumerisches Dahinwandeln schien er nicht zu kennen, nicht zu dulden. Wohl hatte er sich, als Goldmund krank schien, um ihn besorgt gezeigt, wohl half und riet er ihm getreulich in allen Angelegenheiten der Schule und Gelehrsamkeit, erklärte ihm schwierige Stellen der Bücher, öffnete ihm Blicke ins Reich der Grammatik, der Logik, der Theologie; aber niemals schien er so recht mit dem Freunde zufrieden und einverstanden, ja oft genug schien er ihn zu belächeln und nicht ernst zu nehmen. Goldmund fühlte zwar, daß dies nicht bloße Schulmeisterei sei, nicht bloßes Wichtigtun des Älteren und Gescheiteren, daß etwas anderes dahinterstehe, etwas Tieferes, Wichtigeres. Erkennen aber konnte er dies Tiefere nicht, und so machte seine Freundschaft ihn oft traurig und ratlos.