So gingen die Wochen ins Land, und dann kam Silvester. Auf dem Hügel oberhalb des Bauernhofes lag ein kleines Ferienhaus, das einem deutschen Ehepaar aus Köln am Rhein gehörte. Die beiden kamen mehrmals im Jahr — meist im Frühjahr, zu Beginn des Sommers, im milden Herbst oder auch über Weihnachten und Neujahr — in einem großen alten Auto angereist, mit Koffern voller Bücher. Dann wurden am Haus die Fensterläden geöffnet, es wurde gelüftet, im Winter stieg Bauch aus dem Kamin, im Sommer wurden zwei grüne Liegestühle im kleinen Garten aufgestellt, und dann saß das Ehepaar entweder am Kamin oder lag in den Liegestühlen und las die Bücher aus den Koffern. Wenn alles ausgelesen war, fuhren die beiden wieder zurück nach Deutschland. Immer winkten sie dem Bauern auf dem Hof ein Willkommen zu, er winkte zurück, manchmal kam man sich auf der Wiese entgegen, redete ein wenig über das Wetter, die Politik und Lothar Matthäus, der Bauer brachte einen Kopfsalat und frische Kräuter aus seinem Garten, das Ehepaar eine Flasche weißen Rheinwein, und die Madonnina strich manchmal oben ums Haus und bekam ein Tellerchen Milch.
Nero sah sofort: Aha, da tut sich was. Am Silvestermorgen wurden die Fensterläden geöffnet. Eine halbe Stunde später quoll der Rauch aus dem Kamin und es roch nach Holzfeuer. Trotzdem standen die Fenster noch weit offen. Nero lief durch die vergilbte Winterwiese zum Haus hoch, sprang auf die Fensterbank und, als er niemanden sah, ins Wohnzimmer.
Er war noch nie in einem Wohnzimmer gewesen und besah sich alles ganz genau. Zuerst klärte er mögliche Gefahren ab: gab es Hühner mit scharfen Schnäbeln? Einen Hund? Jemanden, der einen Pantoffel nach ihm werfen würde? Das Zimmer war leer und still bis auf das leise knisternde Kaminfeuer. Im Nebenzimmer gab es Geräusche, dort schien sich jemand an Schränken zu schaffen zu machen, aber hier im großen Wohnraum herrschte eine schöne Ruhe. Nero schritt zum erstenmal in seinem Katerleben über einen Teppich, einen weichen, rosa Teppich mit kleinen grünen Ranken. Vorsichtig setzte er die Pfoten, sank ein wenig ein, streckte sich, machte sich gaaaaanz lang und wetzte ratsch, ratsch seine Krallen in der Wolle. Dabei zog er ein paar Teppichfäden heraus — das gefiel ihm, und er kratzte sich den ganzen Teppichrand entlang ritscheratsche bis zum Sofa. Es war ein grünes Sofa mit dicken rosa Kissen. Nero stellte sich auf die Hinterbeine und testete mit den Vorderpfoten: gut, sehr gut, das war sehr schön weich, fast so weich wie das Heu drüben auf dem Hof und nicht so pieksig. Mit einem Satz war er oben, drehte sich ein paarmal und rollte sich in die Polster.
Dazu muß man bedenken, wie hoch so ein Sofa und wie klein so eine Katze ist. Es ist etwa so, als würde ein Mensch aus dem Stand und ohne Anlauf mal eben so auf das Dach seines Hauses springen oder doch wenigstens auf den Balkon im ersten Stock. Eine Katze ist ein Wunder — nicht nur wegen solcher Sprünge. Eine Katze kann auch im Schlaf alles hören, das leiseste Mäusefiepen. Sie kann im Stockdunkeln sehen und wird nie eine Brille brauchen. Sie geht völlig lautlos und trägt einen dicken, weichen Pelz, mit dem sie auch in der Sonne nicht schwitzt. Ihre Pfoten sind zart und weich, und doch läuft sie damit über spitze Steine, heißes Pflaster und gefrorene Felder, ohne sich weh zu tun, und wenn es sein muß, sausen wie Klappmesser vorn die schärfsten Krallen heraus, die man sich vorstellen kann. Eine Katze kann in den Schlamm fallen und schon nach zehn Minuten wieder so adrett und sauber aussehen, als sei sie in der Städtischen Badeanstalt gewesen. Eine Katze kann senkrecht an einem Baum hochgehen, und dann landet sie mit zwei, drei Sprüngen wieder unten, als wäre nichts gewesen, und wenn sie sich wohl fühlt, kann sie ein unbeschreibliches Geräusch in ihrer Kehle rollen lassen — etwas zwischen einem fernen, leisen Gewittergrummeln, einem kleinen Güterzug, der weit weg in der Nacht über eine Holzbrücke fährt, und einem Wasserkessel, der gerade zu summen anfängt, kurz ehe das Wasser kocht. Es ist eines der schönsten Geräusche auf der Welt, und man nennt es Schnurren. Nero schnurrte.
Er lag in den grünen Polstern, hingelehnt an die rosa Kissen, und schnurrte. Und er hörte sehr wohl, daß sich aus dem Nebenzimmer jemand näherte, aber er hatte keine Lust, diesen paradiesischen Platz wieder aufzugeben, aufzuspringen und wegzusausen. Er vertraute auf seine schon andernorts bewiesene Überzeugungskraft. Er war sicher, daß er ein Recht hatte, hier zu liegen, und wenn nicht — dann hatte er ja immer noch seine gefährlichen, blitzschnellen Krallen.
Aus kleinen Augenschlitzen beobachtete Nero eine blonde Frau, die einen Stapel Wäsche in eine Kommodenschublade packte. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und faßte sich mit einer Hand auf den schmerzenden Rücken, als sie sich wieder aufrichtete und ---
»JETZT!« dachte Nero, »jetzt sieht sie sich um, nur jetzt nicht rühren. Wachsam sein! AUFGEPASST!«
Die Frau sah ihn an, aber, fand Nero sofort heraus, nicht unfreundlich. Sie war nur halb so dick wie die Bäuerin vom Hof, sie hatte blaue Augen und schaute sehr verwundert und, wie Nero registrierte, auch bewundernd auf den schwarzen kleinen Besuch da in ihren Kissen. Nero setzte sich ruckartig auf, bereit, das »Wer-bist-du-denn«-Spiel mitzuspielen. Er machte seine grünen Augen erschrocken rund, starrte in die blauen Augen der Frau und öffnete sein niedliches rosa Schnäuzchen, um ein klägliches, an langweiligen Nachmittagen sorgfältig eingeübtes, zu Herzen gehendes MIAUOUOUOUAUO! ertönen zu lassen. Es verfehlte seine Wirkung nicht.
»Wer bist du denn?« fragte die blonde Frau gerührt und kam vorsichtig näher.
»Du liebe Güte«, dachte Nero, »wer bin ich denn, wer bin ich denn, das sieht man doch, ich bin ein schwarzer Kater.« Und er streckte ihr zutraulich sein Köpfchen entgegen.
Die Frau kniete sich vors Sofa und streichelte ihn.
»Du bist ja ein süßes Kerlchen«, sagte sie, »wo kommst du denn auf einmal her?«
»Wahrscheinlich bin ich durchs Fenster hereingeflogen«, sagte Nero, schmiegte seinen kleinen schwarzen Kopf an ihren Arm, in ihre Hand und maunzte laut.
»Hast du Hunger?« fragte die Frau und stand auf.
»Jajaja!« krähte Nero, denn Hunger, oder sagen wir: Appetit hatte er eigentlich immer, und er wußte sofort: diese blonde Puppe kann ich um die Pfote wickeln.
Die Frau ging in die Küche. Gleich sprang Nero vom Sofa, trippelte hinter ihr her, rieb sich an ihrem Bein und maunzte noch einmal, so rührend er nur konnte. Die Frau öffnete den Kühlschrank, holte eine kleine Dose heraus und schüttete ein wenig Milch auf einen Teller. Sie ließ ein bißchen warmes Leitungswasser dazu, verrührte alles mit dem Zeigefinger und sagte: »So ist es nicht zu kalt für dein Bäuchlein.«
»Bäuchlein, pah!« dachte Nero, »was weißt denn du von meinem Bäuchlein, nun mal endlich runter mit dem blöden Teller!« Und er stellte sich auf die Hinterbeine, machte sich ganz lang und angelte mit den Vorderpfoten so kräftig nach dem Teller, mit dem die blonde Frau sich ihm entgegenbückte, daß ein paar Tropfen Milch verschüttet wurden.