Seine Stunde kam schon in der ersten Nacht.
Als Isolde und Robert endlich ins Bett gingen und krumm und schief und unbequem um Rosa herum lagen, da bemerkte Nero, daß ein Fenster im Schlafzimmer offen war. Nur einen Spalt, aber »wartet nur«, dachte er, »euch zeigt Hasilein-Putzelchen, was eine Harke ist, schlaft nur endlich ein.« Und als Robert schnarchte und Isolde schlief und seufzte und von hunderttausend kleinen Katzen träumte, für die sie Griesbrei kochen mußte? durfte?, da sprang Nero zunächst auf die Fensterbank, preßte sich dann durch den schmalen offenen Schlitz und saß draußen auf dem Fenstersims, im ersten Stock. Aaaaaaah!
Frische Luft. Nachtluft, mit all den Geräuschen und Gerüchen, die ein Kater braucht, die er liebt, die er genau kennen will, wo immer er ist. In Italien kannte er das Scharren der Hühner und ihr leises Gurren im Schlaf, er roch die Holzfeuer in den Kaminen der Bauernhöfe und das nasse Fell des Hundes, er konnte das hohe Quieken der Wühlmäuse hören, das Herumschleichen der anderen Katzen und, bildete er sich jedenfalls ein, das mühsame Mahlen der Gedanken im Kopf des Esels, der so gern die Probleme dieser Welt durch bloßes Nachdenken lösen wollte. Hier kannte er — noch — nichts. Er saß ganz still, die großen grünen Augen kugelrund, den Schwanz um die Vorderpfoten gelegt, seine Schnurrbarthaare zitterten und sein Herz klopfte. Er rührte sich nicht. Er lauschte. Er schnüffelte. Er konzentrierte sich und nahm mit allen Sinnen seine neue Umgebung tief in sich auf.
Da gab es eine Straße in der Nähe, Autos waren zu hören. Lichter huschten durch die Büsche. Es mußte irgendwo einen Igel geben, denn er hörte ein leises Schnarchen, und das Igelschnarchen war ihm vertraut. Im Holzstoß des Bauern hatte auch ein Igel seinen Winterschlaf gehalten. Er hörte Mäuse fiepen, aber sie mußten kleiner sein als die Mäuse, die er kannte. Ein ganz feiner Geruch von Schinken, Fleisch und Wurst lag in der Luft, und ein leises Klavierspiel war zu hören, nur wenige seltsame Töne. Das war der Duft von Feinkost Bollmann, das waren die Töne von Komponist Kagel, mit dessen Kater sich Nero später so gut anfreunden würde, aber das alles wußte er ja jetzt noch nicht. Er nahm Geräusche und Gerüche in sich auf und schätzte die Höhe und die Kletterangebote der umstehenden Bäume ab. Konnte er springen? Mußte er sich Umwege ausdenken? Das alles wollte bedacht sein, aber er hatte ja Zeit, die Nacht war noch lang, ein halber Mond leuchtete freundlich, und irgendwo schlug eine Uhr halb eins. Nero saß mucksmäuschenstill bis zwei Uhr. Man hätte denken können, er sei eine Statue, leblos, reglos, aus Stein, aber wir kennen ihn ja. Wir wissen, daß er warm und weich ist und daß er Kraft und Mut sammelt für das neue große Abenteuer der Fremde — Jetzt.
Um Punkt zwei Uhr sprang er mit einem riesigen, aber genau berechneten Satz vom Fenstersims aus in einen nahe stehenden Pflaumenbaum, und nach diesem ersten fabelhaften Sprung blieb er zunächst wieder ganz still sitzen, mit klopfendem Herzen. Genau dreieinhalb Minuten, dann kletterte er so rasch hinunter, daß es aussah, als würde ein Schatten über den Baum huschen, hui, rechts, links, sicher, schnell, geschickt, lautlos setzte er die Pfoten, und schon landete er auf dem kalten stoppeligen Winterrasen und rannte in großen Sätzen unter eine Hecke. Herzklopfen. Stolz. Aufregung. Freude! Gras unter den Pfoten!
»Hey, Isolde«, sagte er zum Fenster hoch, »guck mal, Hasilein macht Bächlein!« Und er ließ einen riesigen aufgestauten See unter die Hecke fließen. »Soviel Zeit muß sein«, dachte er, als er fertig war, und scharrte sein Werk sorgfältig zu. Dann atmete er tief durch und sah sich um. Für dich und mich wäre bis auf das ferne Autorauschen alles totenstill gewesen. Nicht so für einen Kater wie Nero Corleone, der ja im Dunkeln sehen und im Stillen hören kann. Er sah die Regenwürmer und die Käfer, er sah Vögel auf den Asten schlafen, und er hörte tausenderlei interessantes Rascheln und Knistern.
Er war glücklich. Ah, man war angekommen. Man würde sehen. Man würde gefüllte Teller und keine Sorgen mehr haben, und mit dieser Gegend würde man fertig werden.
Schritt für Schritt, tief und flach, leise und aufmerksam schlich Nero durch seinen Garten und sah sich alles ganz genau an, fing sich eine kleine dumme Maus und fraß sie bis auf die Pfoten und die Galle, die er wieder ausspuckte, leckte ein bißchen an den Eierschalen auf dem Komposthaufen der Nachbarin, erkundete noch zwei andere Gärten und saß eine Weile unter Kagels Fenster, um mitten in der Nacht den leisen Klaviertönen zuzuhören. Von ferne sah er einen dicken getigerten Kater, hatte aber keine Lust, ihn heute schon kennenzulernen, und gegen sieben Uhr morgens rollte er sich auf der Fußmatte vor der Terrassentür von Robert und Isolde zusammen und schlief ein, gerade als die Vögel am dunklen Winterhimmel zu schreien und zu flattern begannen.
Als Isolde und Robert wach wurden, lag Rosa immer noch schlafend auf ihrer Bettdecke — aber nicht mehr zur Kugel gerollt, sondern lang ausgestreckt, die Vorderpfoten abgeknickt, und zwischen den Zähnen sah ihre kleine rosa Zungenspitze hervor. Und: sie schnarchte, ganz, ganz leise.
»Nein, wie niedlich!« flüsterte Isolde, »sie schnarcht!«
»Wieso findest du das bei ihr niedlich und bei mir regt es dich auf?« fragte Robert und reckte sich, weil ihm um Rosa herum die Beine eingeschlafen waren. Rosa wachte auch auf, streckte sich kräftig, gähnte ausgiebig und setzte sich hin. Sie überlegte, wo sie war.
»Guten Morgen, mein Schneckchen«, sagte Isolde und streichelte sie, »das war deine erste Nacht in Deutschland!« Und Rosa schnurrte und dachte: »Wo ist Nero?« — »Wo ist Nero?« rief auch Isolde und sprang aus dem Bett.
»Nero!« lockte sie und lief durchs ganze Haus. »Wo ist denn mein Mausezähnchen? Prinzlein, melde dich, komm, sag doch was!«
Ihre Stimme wurde immer höher und aufgeregter. »Mein Häschen, wo hast du dich versteckt?« rief sie, und Robert rollte sich im Bett zusammen und sagte: »Rosa, komm, wir beide schlafen noch eine Bunde.«
Aber Rosa war unruhig. Wo war Nero? Auf leisen Pfoten lief sie die Treppe hinunter und sah ihn natürlich sofort: zusammengerollt wie ein Igel lag er auf der Matte vor der Terrassentür, und die Sonne schien auf seinen schwarzen Pelz. Rosa setzte sich an die Tür und maunzte.
»Nein, mein Hasenherzchen«, sagte Isolde und kam im Morgenrock näher, »da darfst du noch nicht raus. Schau, hier ist dein Kästchen, da kannst du Pipi machen, und ... o Gott!«
Sie hatte Nero gesehen und erstarrte. »Wie kommst du denn in den Garten?« rief sie und öffnete die Terrassentür. Nero wurde natürlich sofort wach, machte einen gewaltigen Buckel, gähnte, rieb sich an Isoldes nacktem Bein und stolzierte mit steil hochgerecktem Schwanz ins Wohnzimmer.
»Her mit dem Frühstück«, forderte er, und Isolde kniete sich auf den Boden, drückte und streichelte ihn und konnte es nicht fassen: »Mein kleines Äffchen war ganz allein in der Kälte! Jetzt aber schnell warme Milch!« Und sie lief aufgeregt in die Küche. Nero dachte: »Grundguter Himmel, worüber sie sich nur immer aufregt! Nun mal rasch die Milch warm gemacht, bitte.«
Und das tat Isolde dann auch. Sie bereitete aus Hackfleisch, Weißbrot und Milch ein leckeres Essen, und da saßen sie nun wieder, der schwarze Kater und sein rundes Mädchen, dessen größte Freude ja das Essen war, und Isolde sah ihnen gerührt zu und seufzte: »Ach, ihr kleinen Engelchen.«