Isolde bestimmte, daß Nero mit nach Italien fahren durfte. Frau Wiegand wurde diesmal abbestellt, das Haus verriegelt, und Nero ergab sich in sein Schicksaclass="underline" zehn Stunden im Körbchen. Er seufzte tief, rollte sich fest zusammen und schlief ohne eine einzige Klage ein. Er träumte von der ersten langen Reise, vor vielen Jahren, mit Rosa, seinem kleinen Mädchen, er träumte von den italienischen Nächten, in denen der Himmel blauer und die Sterne näher waren als in Deutschland, vom Duft der Holzscheite in den Kaminen und von seiner Mutter, der Madonnina, an die er fünfzehn Jahre nicht gedacht hatte.
»Mamma«, dachte er, »Mamma, dein kleiner Junge kommt nach Hause.«
Über die Madonnina lebte natürlich längst nicht mehr. Gleich nach der Ankunft und nach einem Teller mit kräftigendem Suppenfleisch stiefelte Nero vorsichtig den Hügel hinunter und über die Wiese zu seinem alten Bauernhof. Die Kirchturmuhr von Carlazzo bimmelte eine ihrer schrägen Melodien, und Nero duckte sich hinter die Haselnußhecke und sah hinüber auf den Hof.
Der Bauer war alt und krumm geworden und streute gerade Körner für die Hühner aus, ein großer, bunter Hahn war dabei. Nero bemühte sich, jemanden wiederzuerkennen, aber die dummen Hühner sahen für ihn immer alle gleich aus, er hatte sie schon damals nicht auseinanderhalten können. Offensichtlich gab es keinen Hund mehr — niemand bellte. Er sah verschiedene Katzen herumhuschen oder träge auf den Dächern von Schuppen und Hühnerstall liegen, er kannte sie nicht, und sie kamen ihm doch vertraut vor — graue, schwarzweiße, rotweiße, eindeutig Kinder oder Enkel der Madonnina. Die Madonnina sah er nicht.
Als es dämmerte, nickte er da im Gras ein wenig ein — zwischen diesen beiden Häusern, dem Bauernhof, von dem er stammte, und dem Haus auf dem Hügel, das Menschen gehörte, bei denen er ein langes schönes Katerleben hatte leben dürfen. Isolde hatte die Fenster weit geöffnet, packte die Koffer aus und hörte laut Musik von Rossini.
»Kater bei Rossini«, dachte Nero schläfrig, »das war auch was gewesen.« Dazu muß man wissen, daß Rossini nicht nur ein wunderbarer italienischer Komponist war, sondern auch ein großartiger Koch. Noch heute sind ja die Tournedos á la Rossini nach ihm benannt. Die Vorstellung von Musik und guter Küche hatte für einen wie Nero Corleone etwas Unwiderstehliches. Isolde kochte zwar redlich und großzügig, aber doch ohne besondere Raffinesse. Na ja, er hatte sich ja bei Feinkost Bollmann immer das besorgt, was zum Luxusleben nötig gewesen war.
An all das dachte er hier hinter der Haselnußhecke mit Blick auf seine alte bäuerliche Heimat, die ihm kleiner schien als damals und doch so vertraut.
Und plötzlich stupste ihn jemand an. Er erschrak fürchterlich, denn das war ihm, dem großen wachsamen Corleone, noch nie passiert, daß ihn jemand unbemerkt angeschlichen hatte. Sein Fell sträubte sich, er sprang auf, fuhr seine Krallen aus und ... schaute in die liebsten, rundesten, bernsteinfarbensten Augen, die er je gesehen hatte, in ein kleines graues Katzengesicht, auf ein liebes Katzenköpfchen, auf ein zierliches, graues, zauberhaftes kleines Kätzchen, ein wunderschönes Katzenfräulein. Da saß es vor ihm, brav und freundlich, und schnurrte mit einem süßen Stimmchen: »Wer bist du denn?«
Oh, diese Liebe auf den ersten Blick! Ein armer Wicht, wer das nie erlebt hat. Es ist wie ... ja, wie was? Wie ein Blitz, wie ein Donnerschlag, das Herz bebt, die Hände werden kalt und die Füße auch, weil alles Blut zum Herzen fließt. Im Kopf macht es nur noch blöde klopf-klopf-klopf, und ohne daß man irgend etwas dagegen machen könnte, breitet sich im Gesicht ein einfältiges Lächeln aus. Die Welt steht still, und doch fühlt man zum aller erstenmal, daß sie sich dreht und daß man ein ganz wichtiger Teil von ihr ist, im Moment der allerwichtigste, sozusagen der Punkt, an dem die ganze Welt befestigt ist — all das passierte in diesem Augenblick und beim Anblick dieser kleinen grauen Katze mit den sanften Sternenaugen mit unserem Nero Corleone. Eiskalte Pfoten, glühendes Herz, ein Krächzen im Hals. »Ich bin ... .«, wollte er sagen, aber es klang wie rauhes Husten, und so tat er, als müsse er sich räuspern, und legte sich wieder hin. »Ich bin ich, und wer bist du?« sagte er von oben herab, aber seine Stimme zitterte.
»Ich bin die Grigiolina, so nennen sie mich da drüben jedenfalls, die kleine Graue.«
»Du bist von dort?« fragte er und zeigte mit seiner weißen Pfote hinüber zum Hof. Die Grigiolina nickte. »Ja«, sagte sie, »und weißt du was? Sie erzählen immer davon, daß es mal einen gab, der ganz schwarz war und nur eine einzige weiße Pfote hatte, die aber in allen finsteren Geschäften gesteckt hätte —« Sie lachte hell auf. »Er muß ausgesehen haben wie du, aber er ist schon vor vielen Jahren nach Deutschland gegangen.«
Nero sah die Grigiolina aufmerksam an. Sie hatte die Augen der Madonnina, sie hatte Rosas liebes Gesicht und das schöne Fell der kleinen Kleist — oh, wie verliebt er war! Was sollte er ihr nur antworten? Er war doch sonst gewitzt und schlagfertig, warum fiel ihm denn nun so gar nichts ein?
»Erzähl weiter«, bat er.
»Ach«, maunzte sie und leckte mit ihrer kleinen rauhen Zunge zärtlich über Neros Kopf, daß er erschauerte, »da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie sprechen einfach alle von ihm. Ich weiß es von meiner Mamma, die weiß es von ihrer Mamma, der Esel hat ihn gekannt, und ein ganz altes Huhn ist da, Camilla, und Camilla erinnert sich noch genau an ihn. Sie nannten ihn Don Nero Corleone.«
Und sie putzte sich und ihn und schnurrte und sah ihn lieb an. »Und du«, fragte sie, »wie heißt du?«
Nero seufzte tief und schloß die Augen. Sein Herz pochte zum Zerspringen. Sein ganzes Leben rollte vor ihm ab, die Vergangenheit und auch die Zukunft, die Jugend dort auf dem Hof, die Jahre in Deutschland, wo er Freunde gefunden hatte und eine Vorstellung vom Alter, hier, auf seinem Bauernhof, an der Seite dieser kleinen bezaubernden Katze.
»Grigiolina«, sagte er ernst und mit seinem tiefsten Katergrollen und legte der Grauen seine weiße Pfote fest auf den kleinen Kopf: »Spring hinüber und sag es allen: Don Nero Corleone ist zurückgekehrt.«
In den nächsten Tagen verließ Nero kaum das Haus auf dem Hügel. Er konnte noch nicht. Er war noch nicht soweit. Er fürchtete sich. Wovor? Ja, wenn man das so genau wüßte ... Davor, wie man ihn drüben aufnehmen würde; davor, die Grigiolina wiederzusehen; davor, noch einmal ganz von vorn anzufangen; davor, alles aufzugeben, was doch sein Zuhause geworden war — die Teppiche, die weichen Sofas, die warmen Betten, die reichlich gefüllten Teller. Isoldes Schoß. Isolde!
»So anhänglich war er noch nie«, sagte Isolde gerührt zu Robert, der wieder mal an einem besonders dicken neuen Roman prüfte, ob denn nun Peter Handke ein guter Dichter war oder nicht.
»Was?« fragte Robert, der nicht richtig zugehört hatte.
»Er ist so anhänglich. Seit Rosa tot ist, weicht er mir gar nicht mehr von der Seite, mein kleiner Neroprinz«, und sie streichelte seinen schwarzen Kopf und grub ihre Nase zwischen seine Ohren. »Wir beide«, sagte sie leise, »du und ich, wir bleiben immer zusammen.«
Neros Herz zog sich zusammen vor Liebe und Kummer. Er seufzte tief und dachte: »Nein, Schönste. Eben nicht.«
Und dann sprang er von ihrem Schoß und ging hinaus. Er lief langsam hinüber zum Hof, Schritt für Schritt. Er schlüpfte unter dem Zaun durch und stand da, in der Nähe des Beetes mit der Katzenminze. Er kannte alles wieder, den Heuschuppen, die paar Weinstöcke, die Olivenbäume, er sah die Hühner picken. Die Hundehütte stand noch da, auch die Kette war zu sehen, aber die Hütte war leer. Nero hatte den Hund wirklich nicht gemocht, aber merkwürdig, jetzt fehlte er ihm beinahe. »Alter Junge«, dachte Nero, »bist wohl schon im Hundehimmel und störst da alle mit deiner Bellerei.« Ein grauweiß gestreifter Kater kam auf Nero zugeschlichen. Er hatte die Ohren kampfeslustig angelegt und den Schwanz dick gesträubt. Er fauchte leise und drohend. Nero blieb ganz ruhig stehen und ließ ihn herankommen, was den andern sehr verunsicherte. Er blieb auch stehen.