Er überflog den Text und lächelte.»Du hast das natürlich gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf.
«Ich habe sie nur geholt, um sie zu verstecken.«
Er reichte mir die Zeitung.
«Dann lies! Wird dir guttun. Sie vergessen dich nicht. >Der junge Finch<«, zitierte er,»>zeigte Ansätze der Geschicklichkeit und verblüffenden Präzision des großen Sid Halley<. Wie findest du das? Und das ist erst der Anfang.«
«Ja, wie finde ich das?«Ich grinste.»Dispensiere mich vom Mittagessen, wenn es dir nichts ausmacht, Charles. Du brauchst mich nicht mehr.«
«Meinetwegen, wenn du dich nicht wohl fühlst. Sie fahren spätestens gegen sechs. Das wird dir nur angenehm sein.«
Er lächelte und kehrte zu seinen Gästen zurück. Ich las die Zeitung, bevor ich sie wieder versteckte. Charles hatte recht gehabt, es tat mir gut. Der Journalist, den ich seit Jahren kannte, schien aber meine früheren Fähigkeiten etwas zu übertreiben. Wieder mal ein Fall, in dem die Legende größer ist als die Wahrheit. Aber es war trotzdem angenehm.
Am folgenden Vormittag wechselten Charles und ich die Etiketten an den Steinen aus und verpackten sie für die Rückgabe an die Stiftung Carver. Als wir fertig waren, blieb ein Etikett übrig.
«Bist du sicher, daß wir nicht einen Stein in die Kiste gelegt haben, ohne das Etikett auszuwechseln?«fragte Charles.
«Ganz sicher.«
«Wir müssen noch einmal nachsehen. Es kann nur daran liegen.«
Wir nahmen alle Gesteinsproben wieder aus der großen Kiste. Die Halbedelsteinsammlung, die Charles jeden Abend unter Protest mit ins Schlafzimmer genommen hatte, war komplett, aber wir gingen auch sie noch einmal durch, um uns zu vergewissern, daß der fehlende Stein nicht aus Versehen dort hineingeraten war. Wir konnten ihn nirgends finden.
«St. Lukas-Stein«, las ich vom Etikett ab.»Ich weiß noch, wo er war, im obersten Fach rechts.«
«Ja«, sagte Charles,»ein matter Klumpen, ungefähr faustgroß. Hoffentlich haben wir ihn nicht verloren.«
«Doch«, sagte ich.»Kraye hat ihn geklaut.«
«Nein!«rief Charles.»Das kann nicht stimmen.«
«Ruf bei der Stiftung an und erkundige dich, was der Stein wert ist.«
Er schüttelte zweifelnd den Kopf, ging aber zum Telefon und kam stirnrunzelnd zurück.
«Eigentlichen Geldwert hat er angeblich nicht, aber es handelt sich um einen extrem seltenen Meteoritstein. Natürlich wird er weder in Bergwerken noch in Steinbrüchen gefunden. Man muß warten, bis er vom Himmel fällt, und ihn dann finden. Sehr schwierig.«
«Ein Stein, den unser Freund Kraye nicht besitzt.«
«Aber er muß sich doch denken, daß ich auf ihn tippe«, wandte Charles ein.
«Du hättest ihn nie vermißt, wenn er wirklich zu deiner ererbten Sammlung gehört hätte. Im Fach war keine Lücke. Er hatte die anderen einfach zurechtgerückt. Er konnte nicht wissen, daß du sofort alles genau nachprüfen würdest.«
Charles seufzte.»Wir haben also keine Möglichkeit, ihn wiederzubekommen.«
«Nein.«
«Gut, daß du darauf bestanden hast, sie zu versichern«, sagte er.»Der Wert, den die Stiftung für den Meteoritstein festgesetzt hat, ist größer als der aller anderen zusammengenommen. Man hat bisher nur noch einen zweiten Stein dieser Art gefunden, den St. Markus-Stein. «Er lächelte plötzlich.»Offenbar ist uns das Gegenstück zum Schwarzen Einser abhanden gekommen.«
Kapitel 5
Zwei Tage später ging ich wieder durch den Säuleneingang von Radnors Bürohaus, weit lebendiger, als man mich das letztemal hinausgetragen hatte.
Ich wurde von dem Mädchen am Klappenschrank freudig begrüßt, stieg beinahe wohlgelaunt die weitgeschwungene Treppe hinauf und wurde von einer Salve witziger Kommentare der Abteilung Rennsport empfangen. Was mich am meisten überraschte, war ein Gefühl der Heimkehr. Ich hatte mich vorher eigentlich nie recht dem Unternehmen angehörig gefühlt, obwohl mir in Aynsford klargeworden war, daß ich gar nicht gern von dort weggehen würde. Diese Entdeckung kam ein bißchen spät. Wahrscheinlich würde man mir den Stuhl bald vor die Tür setzen.
Chico grinste breit:»Sie haben es also geschafft.«
«Nun ja.«
«Ich meine, zurück in die Tretmühle hier.«-»Ja.«
«Aber wie üblich zu spät«, meinte er und schaute auf die Uhr.
«Sie können mich mal«, sagte ich.
Chico wandte sich den anderen zu, die uns lächelnd beobachteten.
«Unser Sid ist zurück, charmant wie eh und je. Die Arbeit kann beginnen.«
«Ich sehe, daß ich immer noch keinen Schreibtisch habe«, meinte ich,»keinen Schreibtisch, keine Wurzeln, keinen richtigen Posten — wie zuvor!«
«Setz dich an Dollys Schreibtisch, sie hat ihn für dich saubergehalten.«
Dolly sah Chico lächelnd an. Ihre großen blauen Augen verrieten allzu deutlich, wie sehr sie sich nach der Mutterrolle sehnte. Sie mochte die zweitbeste Abteilungsleiterin sein, die Radnor hatte, ausgestattet mit einem phänomenalen Gedächtnis. Sie war eine massive, große, selbstsichere Frau über vierzig, die schon zwei Ehen hinter sich hatte und von einem die Hoffnung nicht aufgebenden alten Junggesellen verfolgt wurde, aber sie betrachtete ihr Leben immer noch als Mißerfolg, weil sie keine Kinder bekommen konnte. Dolly war ungeheuer emsig. Sie strömte über vor weiblicher Vitalität und nicht zu beherrschender Traurigkeit.
Chico wollte nicht bemuttert werden. Er hatte etwas gegen Mütter — gegen Mütter als Gesamtheit, nicht nur gegen jene, die ihre Kinder vor Polizeirevieren aussetzen.
Ich hockte mich auf ihren Schreibtisch und ließ ein Bein baumeln.
«Na, liebste Dolly, was macht der Detektivberuf?«sagte ich.
«Sie sollten lieber mehr arbeiten und weniger quatschen«, erwiderte sie mit gespielter Strenge.
«Dann geben Sie mir etwas zu tun.«
«Ah, ja«- sie überlegte —»Sie könnten. «begann sie und verstummte.»Nein. lieber nicht. Nach Lambourn muß Chico. Ein Trainer möchte einen zweifelhaften Burschen überprüfen lassen.«
«Für mich ist also nichts da?«
«Ah. Tja. «sagte Dolly.»Nein.«
Sie hatte schon hundertmal nein gesagt und nicht ein einzigesmal ja. Ich schnitt eine Grimasse, zog das Telefon heran, nahm den Hörer ab, drückte auf den richtigen Knopf und erwischte Radnors Sekretärin.
«Joanie? Hier Sid Halley. Ja. Zurück aus dem Jenseits, richtig. Ist der Alte beschäftigt? Ich möchte ihn sprechen.«
«Wichtigkeit«, sagte Chico.
Joanies Stimme erwiderte:»Er hat gerade einen Klienten bei sich. Wenn er fort ist, frage ich ihn gleich und rufe zurück.«
«Okay.«
Ich legte auf. Dolly zog die Brauen hoch. Als Abteilungsleiterin war sie meine unmittelbare Vorgesetzte, und meine Bitte, mit Radnor sprechen zu dürfen, ließ den Dienstweg außer acht. Aber ich war überzeugt, daß ihre bestimmte Weigerung, mir etwas zu tun zu geben, auf einer direkten Anweisung Radnors beruhte. Wenn ich etwas erreichen wollte, mußte ich zu ihm selbst gehen.
«Dolly, Liebste, ich habe es satt, dauernd herumzuhocken, auch wenn es auf Ihrem Schreibtisch ist, der mir einen herrlichen Ausblick gestattet.«
Sie trug wie meistens eine seidene Wickelbluse. Der Ausschnitt endete an einer Stelle, die bei einem jungen Mädchen Unruhen hervorgerufen hätte. Bei Dolly war die Wirkung immer noch gewaltig.
«Wollen Sie Schluß machen?«fragte Chico, zur Sache kommend.
«Das hängt vom Alten ab«, erwiderte ich.»Vielleicht wirft er mich hinaus.«
Es blieb im Zimmer eine Weile still. Sie wußten alle sehr gut, wie wenig ich arbeitete, mit wie wenig Arbeit ich mich zufriedengegeben hatte. Dolly machte ein ausdrucksloses Gesicht, was mir nicht weiterhalf. Der junge Jones kam mit einem Tablett herein, auf dem Teetassen standen. Er war sechzehn — laut, unhöflich, anarchistisch, grob; aber wahrscheinlich der tüchtigste Bürobote in ganz London. Das Haar trug er fast bis zu den Schultern, gewellt und peinlich sauber. Von hinten sah er wie ein Mädchen aus, was ihn nicht störte. Von vorn wies ihn sein knochiges, mit Pickeln übersätes Gesicht als unzweifelhaft männlich aus. Er verbrauchte die Hälfte seines Lohnes auf der Jagd nach Mädchen. Seinen