«Na ja, stimmt auch.«
Schon von frühester Kindheit an hatte ich eine Abneigung gegen allzuviel Mitgefühl gehabt. Ich wollte nichts davon wissen. Ich mißtraute solchen Gefühlen. Ich wurde weich davon, und das durfte ich mir nicht leisten.
Wir aßen unten gemeinsam zu Mittag und besprachen zivilisiert den Ablauf der Scheidung. Jenny, so schien es, wünschte nicht, daß ich wegen böswilligen Verlassens die Scheidung beantragte. Ich sollte statt dessen eine >vernünftige Lösung< finden. Von meiner Arbeit bei Radnor her müßte mir das doch leichtfallen. Charles entschuldigte sie: Jennys künftiger Ehemann sei in diplomatischem Dienst und ziehe es vor, sie nicht als den schuldigen Teil angesprochen zu sehen.
Charles erkundigte sich diskret, ob ich — äh — Jenny schon untreu gewesen sei?
Nein, erwiderte ich und sah ihm zu, wie er sich eine Zigarre anzündete, leider nicht. Die meiste Zeit sei ich ja aus dem einen oder anderen Grund nicht in bester Verfassung gewesen. Diese Entschuldigung ließ er amüsiert gelten.
Ich deutete an, daß ich Jennys Wunsch entsprechen würde, weil meine Zukunft davon nicht so betroffen war wie die ihre. Sie würde mir dankbar sein, meinte Charles. Ich glaubte sie besser zu kennen: Sie würde es als selbstverständlich voraussetzen.
Da wir zu diesem Thema nichts mehr zu sagen hatten, befaßten wir uns mit Kraye. Ich fragte Charles, ob er ihn inzwischen wiedergetroffen habe.
«Ja, das wollte ich dir noch erzählen. Ich habe am Donnerstag im Club mit ihm zu Mittag gegessen. So ganz zufällig.«
«Hast du ihn da kennengelernt, im Club?«
«Richtig. Er bedankte sich für das Wochenende und so weiter. Er unterhielt sich mit mir über die Steine. Sehr interessante Sammlung, meinte er, aber der St. Lukas-Stein wurde nicht erwähnt. Ich hätte ihn am liebsten direkt gefragt, nur um seine Reaktion zu beobachten. «Er lächelte.»Nebenbei kam ich auch auf dich zu sprechen, worauf er seinen ganzen Charme spielen ließ und erklärte, du hättest zwar seine Frau tödlich beleidigt, aber das hätte sein Vergnügen nicht trüben können. Ich hielt das für ausgesprochen gemein. Er legte es darauf an, dir größte Schwierigkeiten zu machen.«
«Ja«, sagte ich fröhlich.»Ich habe ihn beleidigt und außerdem bespitzelt. Alles, was er über mich sagt, ist vollauf gerechtfertigt.«
Ich erzählte Charles, wie ich die Fotos gemacht hatte und was mir im Laufe der vergangenen Woche alles aufgefallen war. Seine Zigarre ging aus. Er schien völlig verblüfft zu sein.
«Das wolltest du doch, oder nicht?«fragte ich.»Du hast damit angefangen. Was hast du erwartet?«
«Ich hatte es beinahe vergessen — so warst du früher. Entschlossen sogar bedenkenlos. «Er lächelte.»Meine Therapie hat sich doch als recht nützlich erwiesen.«
«Gnade Gott deinen anderen Patienten«, sagte ich,»wenn Kraye bei dir die übliche Medizin ist.«
Wir gingen die Straße entlang zu Charles’ Wagen. Er wollte wieder nach Hause fahren.
«Ich hoffe, daß wir uns trotz der Scheidung auch künftig sehen?«meinte ich.»Ich würde das sonst sehr bedauern. Als dein ehemaliger Schwiegersohn kann ich ja schlecht nach Aynsford kommen.«
Er sah mich überrascht an.
«Wenn du nicht kommst, bin ich beleidigt. Jenny wird auf der ganzen Welt zu Hause sein wie Jill. Komm nach Aynsford, sooft du willst.«
«Danke«, sagte ich.
Ich meinte es ernst. Er stand neben seinem Wagen und sah auf mich herunter.
«Jenny ist eine dumme Gans«, sagte er schließlich.
Ich schüttelte den Kopf. Das stimmte nicht. Jenny wußte genau, was sie brauchte, nur ich gehörte nicht dazu.
Als ich am nächsten Morgen pünktlich ins Büro kam, fing mich das Mädchen am Klappenschrank ab und sagte, Radnor wünsche mich sofort zu sprechen.
«Guten Morgen«, sagte er.»Lord Hagbourne hat mir am Telefon gerade erklärt, es wäre langsam Zeit, daß wir Resultate vorwiesen. Er könnte außerdem heute nicht nach Seabury fahren, weil sein Wagen zum Kundendienst müßte. Bevor Sie explodieren, Sid. Ich habe ihm gesagt, daß Sie ihn mit Ihrem eigenen Wagen hinbringen. Beeilen Sie sich!«
Ich grinste.
«Das hat ihm wohl nicht gepaßt.«
«In der Eile fiel ihm keine andere Entschuldigung ein. Fahren Sie nur schnell und holen Sie ihn ab, bevor er sich eine andere Ausrede ausdenkt.«
«Gut.«
Ich ging noch bei der Abteilung Rennsport vorbei, wo Dolly gerade Lippenstift auftrug, diesmal ohne Wickelbluse: enttäuschend! Ich sagte ihr, wo ich hinwollte, und fragte, ob ich Chico einsetzen könnte.
«Meinetwegen«, erwiderte sie resigniert.»Wenn Sie überhaupt zu Wort kommen. Er ist in der Buchhaltung und streitet mit dem kleinen Jones.«
Chico hörte jedoch aufmerksam zu und wiederholte, was ich ihn beauftragt hatte:»Ich soll im einzelnen feststellen, was für Fehler der Administrator in Dunstable gemacht hat, und mich vergewissern, daß sie und nichts anderes die Ursache dafür waren, daß die Rennbahn mit Verlust arbeitete.«
«Genau. Und suchen Sie die Akte von Andrews und den Fall heraus, den Sie gerade bearbeiteten, als ich niedergeschossen wurde.«
«Aber das ist doch alles abgeschlossen«, protestierte er.»Die Akte liegt im Keller.«»Dann schicken Sie Jones hinunter«, schlug ich grinsend vor.
«Wahrscheinlich handelt es sich nur um einen Zufall, aber ich möchte etwas nachprüfen. Das mache ich morgen früh. Okay?«
«Wenn Sie meinen.«
Ich eilte nach Hause, ließ den Wagen auftanken und fuhr zum Beauchamp Place. Lord Hagbourne stieg mit einem höflichen, aber kühlen >Guten Morgen< ein, und wir traten die Fahrt nach Seabury an. Er brauchte eine Viertelstunde, um damit fertig zu werden, daß man ihn überrumpelt hatte. Endlich seufzte er, drehte sich herum und bot mir eine Zigarette an.
«Nein, danke, Sir. Ich rauche nicht.«
«Stört es Sie, wenn ich rauche?«
«Natürlich nicht.«
«Das ist ein schöner Wagen«, bemerkte er und schaute sich um.
«Er ist schon drei Jahre alt. Ich habe ihn in meiner letzten Rennsaison gekauft.«
«Ich muß schon sagen, daß Sie sehr gut damit zurechtkommen«, meinte er.»Ich hätte nicht gedacht, daß man einen solchen Wagen mit nur einer Hand steuern kann.«
Der Zustand der Rennbahn in Seabury bedrückte ihn. Wir gingen zusammen mit Captain Oxon, der sich starr aufrecht hielt und betont höflich gab, zu der beschädigten Stelle. Ich hielt Oxon für einen Dummkopf. Er hätte den Vorsitzenden des Rennsportkomitees anflehen müssen, sofort für Hilfe zu sorgen. Captain Oxon war ein schlanker, freundlicher Mann um die Fünfzig, mit langem spitzen Kinn und wäßrigen Augen. Der Ausdruck beleidigter Sturheit in seinem Gesicht wirkte eher kindisch, als daß er echte Stärke verraten hätte.
«Ich weiß, daß es mich eigentlich nichts angeht«, sagte ich,»aber ein Bulldozer könnte doch in ein paar Stunden den Rest des verbrannten Rasens abräumen? Neuen wird man nicht mehr einsetzen können, man muß dann eben ein paar Tonnen Lohe oder Torf aufschütten, dann geht es schon. Sie müssen doch sowieso für die Aufschüttung an der Straße Lohe beziehen. Warum bestellen Sie nicht einfach eine größere Menge?«
Oxon sah mich gereizt an.»Das können wir uns nicht leisten.«
«Sie können sich keine Absage in letzter Minute mehr leisten«, korrigierte ich.
«Dagegen sind wir versichert.«
«Ich bezweifle, ob eine Versicherungsgesellschaft da noch mitmacht«, sagte ich.»Man wird Ihnen sagen, die Rennen hätten stattfinden können, wenn man sich größere Mühe gegeben hätte.«
«Heute ist Montag«, sagte Lord Hagbourne nachdenklich.
«Die Rennen sollen am Freitag stattfinden. Wenn wir morgen einen Bulldozer einsetzen, kann die Lohe am Mittwoch und Donnerstag abgeladen und aufgeschüttet werden. Das müßte klappen.«
«Aber die Kosten. «begann Oxon erneut.
«Das Geld muß eben beschafft werden«, sagte Lord Hagbourne.»Sagen Sie Mr. Fotherton, daß ich die Ausgaben gutgeheißen habe. Die Rechnungen werden bezahlt, so oder so. Man darf nicht behaupten können, es sei nicht versucht worden.«