Er schnupfte, hustete, wischte sich mit einem Taschentuch die Augen. Nach einer Weile sagte er unsicher:»Wie sind Sie darauf gekommen? Ich habe Ihnen doch gesagt, ich möchte nicht, daß Fragen gestellt werden.«
«Das war reiner Zufall. Niemand hat herumgefragt, das versichere ich Ihnen. Wollen Sie mir nicht davon erzählen? Dann werden überhaupt keine Fragen nötig sein.«
«Die Polizei — «, sagte er zweifelnd,»- war schon einmal hier. Ich habe nichts gesagt und hatte meine Ruhe.«
«Ihre Angaben werden vertraulich behandelt.«
«Ich war so ein Narr. Ich möchte wirklich mit jemandem darüber sprechen. Es war der Brief, wissen Sie. Der Brief, den William mir schreiben wollte, obwohl er ihn nie abgeschickt hat. Ich fand ihn in einem Koffer, der gefunden wurde, als William sich umbrachte. Ich war damals in Sarawak, und man schickte mir ein Telegramm. Es war ein Schock. Wenn der einzige Bruder so etwas — so etwas Schreckliches tut. Er war jünger als ich, sieben Jahre. Wir standen einander nicht sehr nahe. Ich wäre gerne — aber jetzt ist es zu spät. Als ich nach Hause kam, holte ich seine Sachen und brachte sie hier in den Speicher, die ganzen Rennbücher und so weiter. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich interessierte mich nicht dafür, aber es schien, ich weiß nicht, ich konnte sie einfach nicht verbrennen. Es dauerte Monate, bis ich mich damit befaßte, und dabei fand ich den Brief.«
Seine Stimme schwankte, und er sah mich flehend an.
«Kitty und ich hatten entdeckt, daß meine Pension bei weitem nicht reichte. Alles ist ja so schrecklich teuer. Wir kamen dahinter, daß wir das Haus wieder verkaufen müßten, obwohl wir es erst gekauft hatten, und Kittys Verwandte wohnen alle in der Nähe. Und dann — ich dachte —, vielleicht könnte ich statt dessen den Brief verkaufen.«
«Aber statt Geld gab es nur Drohungen«, meinte ich.
«Ja. Der Brief brachte mich auf die Idee — «
Er kaute wieder an seinem Schnurrbart.
«Und jetzt haben Sie ihn nicht mehr«, sagte ich sachlich, als wüßte ich es genau.»Als Sie das erstemal bedroht wurden, glaubten Sie den Brief immer noch verkaufen zu können, wenn die Firma Radnor Sie beschützte. Dann bekamen Sie es mit der Angst zu tun und rückten den Brief heraus. Anschließend brauchten Sie keinen Schutz mehr, weil weitere Drohungen ausblieben.«
Er nickte.
«Ich habe ihnen den Brief gegeben, weil der Mann angeschossen wurde. Ich hatte nie gedacht, daß es soweit kommen würde. Ich war entsetzt, es war furchtbar. Ich hatte nicht geglaubt, daß es so gefährlich sein könnte, einen Brief zu verkaufen. Wenn ich ihn nur nie gefunden hätte! Wenn ihn William nur nie geschrieben hätte!«
«Was stand in dem Brief?«
Er zögerte.
«Das macht vielleicht nur wieder Ärger, sie könnten wiederkommen.«
«Sie wissen ja nicht, daß Sie mir davon erzählt haben«, sagte ich.
«Woher denn?«
«Das stimmt.«
Er sah mich an und traf seine Entscheidung. Einen Nutzen hat es, wenn man klein ist: Niemand hat Angst vor einem. Wenn ich groß und breit gewesen wäre, hätte er es wohl nicht riskiert. Aber sein Gesicht entspannte sich, und er gab seine Zurückhaltung auf.
«Ich kenne ihn auswendig«, sagte er.»Ich schreibe Ihnen alles auf, wenn Sie es wollen, das ist einfacher.«
Ich wartete, während er einen Kugelschreiber und einen Schreibblock holte und sich an die Arbeit machte.
Als der Brief vor seinen Augen wieder entstand, war er sichtlich bewegt, aber ich konnte nicht entscheiden, ob es Angst, Reue oder Trauer war. Er beschrieb eine Seite, riß das Blatt vom Block und gab es mir mit zitternder Hand.
Ich las, was er geschrieben hatte. Ich las es zweimal. Wegen dieser kurzen, verzweifelten Sätze, dachte ich leidenschaftlich, hätte ich beinahe mein Leben verloren.
«Herzlichen Dank«, sagte ich.
«Wenn ich ihn nur nie gefunden hätte«, wiederholte er.»Der arme William.«
«Sind Sie bei diesem Mann gewesen?«fragte ich und deutete auf den Brief, während ich ihn in die Brieftasche legte.
«Nein, ich habe ihm geschrieben. Er war nicht schwer zu finden.«
«Und wieviel haben Sie verlangt?«
Er murmelte beschämt:»Fünftausend Pfund.«
Zu wenig, dachte ich. Für Fünfzigtausend hätte er ins Geschäft kommen können. Aber Fünftausend verrieten seine Mittelmäßigkeit. Kein Wunder, daß man ihm auf die Zehen getreten war.
«Und was passierte dann?«erkundigte ich mich.
«Ein großer Mann wollte den Brief holen, eines Nachmittags gegen vier. Es war schrecklich. Ich verlangte das Geld, aber er lachte mich aus und stieß mich in einen Sessel. Geld bekäme ich keines, sagte er, aber wenn ich den Brief nicht sofort herausrückte, würde er — würde er mir verschiedenes beibringen. So drückte er sich aus. Ich erklärte, daß ich den Brief in meinem Schließfach in der Bank aufbewahrte, daß die Bank geschlossen sei und ich ihn erst am nächsten Tag holen könnte. Er sagte, er würde mit mir am nächsten Tag zur Bank gehen. Damit verließ er das Haus.«
«Und Sie haben sofort bei Radnor angerufen?«
«Ja.«
«Wie sind Sie gerade auf dieses Detektivbüro gekommen?«
Er sah mich überrascht an.
«Es war das einzige, das ich kannte. Gibt es denn überhaupt andere? Die meisten Leute haben von Hunt Radnor gehört.«
«Ich verstehe. Radnor schickte Ihnen einen Bewacher, aber der große Mann gab nicht auf.«
«Er telefonierte dauernd. Dann schlug Ihr Angestellter vor, wir sollten ihm eine Falle in Ihrem Büro stellen, und ich stimmte zu. Ich hätte das nicht erlauben dürfen. Ich war ein Narr. Ich wußte die ganze Zeit, wer mich bedrohte, aber ich konnte es nicht sagen, weil ich sonst zugegeben hätte, daß ich mir Geld auf — auf illegale Weise beschaffen wollte.«
«Ja. Nur noch eine Kleinigkeit. Wie sah er aus, der Mann, der Sie bedroht hat?«
«Er war sehr stark. Hart! Ich bin — ich meine, ich konnte nie gut mit den Fäusten umgehen. Wenn er zugeschlagen hätte, wäre ich nicht.«
«Ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie sich mit ihm nicht auf eine Rauferei eingelassen haben«, sagte ich.»Ich will nur wissen, wie er aussah.«
«Sehr groß«, sagte er unklar,»riesig.«
«Ich weiß, daß es schon ein paar Wochen her ist, aber können Sie sich nicht an mehr erinnern? Die Haare? Sein Gesicht? Wie alt er war?«
Er lächelte zum erstenmal.
«Es ist ganz bestimmt einfacher, wenn man solche Fragen beantworten kann. Er war ziemlich kahlköpfig, und er hatte große Sommersprossen am Handrücken. Wie alt er war, ist schwer zu sagen, auf alle Fälle über dreißig. Was noch? Ah ja. Offenbar Arbeiter.«
«Engländer?«
«Ja, kein Ausländer.«
Ich stand auf, bedankte mich und wollte gehen.
«Glauben Sie, daß es keine Schwierigkeiten mehr gibt?«fragte er.
«Von mir oder von meiner Firma aus nicht.«
«Und der Mann, der niedergeschossen wurde?«
«Von dem auch nicht.«
«Ich habe mir immer einreden wollen, daß ich nichts dafür konnte, aber ich kann seitdem nicht mehr richtig schlafen. Warum war ich nur so dumm? Ich hätte dem jungen Mann nicht erlauben dürfen, eine Falle zu stellen. Ich hätte Ihre Firma nicht beauftragen dürfen. Das hat wieder ein Loch in unsere Ersparnisse gerissen. Ich hätte kein Geld für diesen Brief verlangen dürfen!«
«Das ist wahr, Mr. Brinton. Aber geschehen ist geschehen, und ich nehme nicht an, daß Sie so etwas noch einmal machen.«
«Nein, nein«, sagte er gequält,»niemals mehr. Die letzten Wochen waren. «Er verstummte. Dann sagte er etwas lauter:
«Wir müssen das Haus jetzt verkaufen. Kitty gefällt es hier zwar sehr, aber ich wollte immer ein kleines Häuschen am Meer.«
Als ich ins Büro kam, nahm ich den katastrophalen Brief heraus und las ihn noch einmal durch, bevor ich ihn zur Akte legte. Da es sich weder um das Original noch um eine Kopie, sondern nur um eine Wiedergabe aus dem Gedächtnis handelte, hatte er keinen Beweiswert. Er lautete: >Lieber Mervy, lieber Bruder, wenn Du mir nur helfen könntest, wie früher, als ich klein war. Ich habe in fünfzehn Jahren den Rennplatz Dunstable aufgebaut, und ein Mann namens Howard Kraye zwingt mich jetzt dazu, ihn zugrunde zu richten. Ich muß Rennen ansetzen, die kein Mensch besucht, es kommen kaum mehr Pferde, und die Zuschauer werden immer weniger. In dieser Woche muß ich dafür sorgen, daß die Rennzeitung zu spät in die Druckerei kommt und die Telefone im Pressezimmer nicht funktionieren. Es wird ein schreckliches Durcheinander geben. Die Leute werden mich für verrückt halten. Ich kann nichts gegen ihn machen. Er bezahlt mich, und ich muß tun, was er verlangt. Ich kann nicht gegen meine Natur an, das weißt Du. Er hat festgestellt, daß ich mit einem jungen Mann zusammenlebte, das könnte mich ins Gefängnis bringen. Er möchte die Rennbahn verkaufen und Häuser bauen lassen. Nichts kann ihn aufhalten.